Название | Das Zeitalter der Extreme |
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Автор произведения | Eric Hobsbawm |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783806239669 |
Diese Argumentation hätte nur unter einer Bedingung Sinn gemacht: wenn die Weltrevolution noch auf dem Vormarsch gewesen wäre und ihre Schlachten tatsächlich unmittelbar bevorgestanden hätten. Doch obwohl die europäische Lage noch weit von einer Stabilisierung entfernt war, war es 1920 bereits klar, daß eine bolschewistische Revolution nicht auf der Agenda des Westens stand. Aber ebenso klar war, daß sich die Bolschewiken in Rußland auf Dauer etabliert hatten. Als die Internationale zusammentrat, schien es zweifellos noch eine Chance zu geben, daß die Rote Armee – siegreich im Bürgerkrieg und gerade im Ansturm auf Warschau – die Revolution als Nebenprodukt eines kurzen russisch-polnischen Krieges (ausgelöst durch die territorialen Ambitionen Polens, das nach eineinhalb Jahrhunderten der Nichtexistenz wieder zum Staat geworden war und nun die Wiederherstellung seiner Grenzen aus dem 18. Jahrhundert forderte) mit Waffengewalt in den Westen vorantreiben könnte. Der sowjetische Vormarsch (dem von Isaak Babel mit Reiterarmee ein wunderbares literarisches Denkmal gesetzt worden ist) wurde von so ungewöhnlich unterschiedlichen Zeitgenossen begrüßt wie dem österreichischen Schriftsteller Joseph Roth (dem späteren Elegiker der Habsburger) und Mustafa Kemal (dem späteren Führer der modernen Türkei). Doch die polnischen Arbeiter erhoben sich nicht, und die Rote Armee wurde vor den Toren Warschaus zurückgeschlagen. Von da ab war es ruhig an der russischen Westfront, was auch immer der Anschein gewesen sein mag. Das wußte auch die Revolution und wandte ihre revolutionären Perspektiven Asien zu, dem Lenin schon immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Von 1920 bis 1927 schienen sich denn auch alle weltrevolutionären Hoffnungen auf die chinesische Revolution zu richten, die unter der Kuomintang, damals Nationale Befreiungspartei, auf dem Vormarsch war und deren Führer Sun Yat-sen (1866–1925) sowohl das sowjetische Modell als auch die sowjetische Militärhilfe und die neue Kommunistische Partei Chinas als Teil seiner Bewegung begrüßte. Das Bündnis von Kuomintang und Kommunisten marschierte nach der großen Offensive 1925–27 rasch von seinen Stützpunkten in Südchina nach Norden und konnte zum erstenmal seit dem Sturz des Kaisertums im Jahr 1911 einen Großteil von China wieder unter die Kontrolle einer einzigen Regierung bringen, bevor Tschiang Kai-schek, höchster Kuomintang-General, sich von den Kommunisten abwandte und begann, sie abzuschlachten. Doch bereits vor diesem Beweis, daß selbst der Osten noch nicht für eine Oktoberrevolution reif war, konnten die Versprechungen Asiens nicht über das Versagen der Revolution im Westen hinwegtäuschen.
1921 war es unleugbar geworden. Die Revolution befand sich auf dem Rückzug in Sowjetrußland, obwohl die Macht der Bolschewiken unangefochten war. Sie war aus der Agenda des Westens verschwunden. Die Komintern erkannte dies, wenngleich ohne es recht zuzugeben. Auf ihrem Dritten Kongreß rief sie zu einer »Einheitsfront« mit genau den Sozialisten auf, die sie auf ihrem Zweiten Kongreß aus der Armee des Revolutionsprozesses ausgeschlossen hatte. Dies bedeutete dann effektiv die Spaltung der Revolutionäre für ganze Generationen. Aber es war sowieso schon zu spät gewesen. Die Bewegung war bereits auf Dauer gespalten, und die Mehrheit der linken Sozialisten, Individuen wie Parteien, hatte sich wieder der sozialdemokratischen Bewegung zugewandt, die fast immer von moderaten Antikommunisten geleitet wurde. Die neuen kommunistischen Parteien blieben als Minderheiten der europäischen Linken zurück und sollten auch künftig mehr oder weniger kleine, wenn auch leidenschaftliche Minderheiten bleiben – mit wenigen Ausnahmen, wie in Deutschland, Frankreich oder Finnland. Und diese Situation sollte sich auch bis in die dreißiger Jahre nicht mehr ändern (siehe Fünftes Kapitel).
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Die Jahre des Aufstands ließen ein riesiges rückständiges Land zurück, das nun von Kommunisten regiert wurde und sich dem Aufbau einer zum Kapitalismus alternativen Gesellschaft verpflichtet hatte. Aber sie hinterließen auch eine Regierung, eine disziplinierte internationale Bewegung und, vielleicht von ebenso großer Bedeutung, eine Generation von Revolutionären, die sich der Vision einer Weltrevolution unter jener Fahne verschrieben hatten, die im Oktober gehißt worden war; und alle standen sie unter der Führung jener Bewegung, die ihr Hauptquartier ganz eindeutig in Moskau hatte. (Mehrere Jahre lang hatte man gehofft, es bald nach Berlin verlegen zu können; und Deutsch, nicht Russisch, war die offizielle Sprache der Internationale zwischen den Kriegen.) Die Bewegung wußte wahrscheinlich selbst nicht so recht, wie die Weltrevolution vorangetrieben werden könnte, nachdem sich Europa stabilisiert hatte und Asien geschlagen geben mußte. Versuche in dem einen oder anderen Land, bewaffnete kommunistische Aufstände zu organisieren, führten zu Desastern (Bulgarien und Deutschland 1923, Indonesien 1926, China 1927 und – erst spät und völlig regelwidrig – Brasilien 1935). Doch die große Wirtschaftskrise und der Aufstieg Hitlers sollten bald schon zeigen, daß die Weltlage zwischen den Kriegen kaum dazu geeignet war, apokalyptische Befürchtungen zu beruhigen (siehe Drittes bis Fünftes Kapitel). Nur, das allein erklärt noch nicht die plötzliche Kehrtwende der Komintern in den Jahren zwischen 1928 und 1934 zu einer ultrarevolutionären und linkssektiererischen Rhetorik. Denn die Bewegung hatte sich seit 1923 in der Praxis nie ernsthaft darauf vorbereitet, irgendwo auf der Welt, außer etwa in China, die Macht zu übernehmen. Dieser Wandel, der sich als politisch verhängnisvoll erweisen sollte, läßt sich eher durch die interne Politik der sowjetischen Kommunistischen Partei erklären, nachdem Stalin die Kontrolle übernommen hatte. Vielleicht war es aber auch ein Kompensationsversuch für die immer wahrnehmbareren Interessendivergenzen der Sowjetunion: einerseits als Staat, der unvermeidlich mit anderen Staaten koexistieren mußte – seit 1920 begann das Regime11 zunehmend internationale Anerkennung zu gewinnen –, andererseits als Bewegung, deren Ziel es war, subversiv auf alle anderen Regierungen einzuwirken und sie zu stürzen. Am Ende überwogen die Staatsinteressen der Sowjetunion die weltrevolutionären Interessen der Kommunistischen Internationale, die von Stalin zu einem Instrument der sowjetischen Staatspolitik unter strikter Kontrolle der sowjetischen Kommunistischen Partei reduziert worden war und in deren Reihen er Säuberungen, Ausschlüsse und Reformen vornahm, wie es ihm gerade beliebte. Die Weltrevolution war nur noch Rhetorik. Eine Revolution wurde denn auch tatsächlich nur dann geduldet, wenn sie (a) nicht dem Staatsinteresse der Sowjetunion entgegenstand und wenn sie (b) unter direkte sowjetische Kontrolle gebracht werden konnte. Westliche Regierungen, die den Vormarsch kommunistischer Regime nach 1944 im wesentlichen als Ausdehnung der sowjetischen Macht ansahen, deuteten damit Stalins Intentionen gewiß richtig. Das taten auch die nicht neugebildeten revolutionären Regierungen, die Moskau bittere Vorwürfe machten, daß es eine Machtergreifung der Kommunisten nicht wollte und jeden Versuch in dieser Richtung entmutigte, sogar jene, die sich, wie in Jugoslawien und China, als erfolgreich erwiesen.
Dennoch war Sowjetrußland bis zu seinem Ende sogar in den Augen vieler Mitglieder seiner eigenen korrupten und selbstbereichernden Nomenklatura mehr als nur eine Großmacht geblieben. Die weltweite Emanzipation und der Aufbau einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft waren immerhin seine fundamentale Existenzgrundlage. Aus welchem anderen Grund hätten die sturen Moskauer Bürokraten die Guerilla des mit den Kommunisten verbündeten Afrikanischen Nationalkongresses immer weiter finanzieren und hochrüsten sollen, wo doch deren Chancen, das Apartheidsystem in Südafrika zu stürzen, jahrzehntelang so gering schienen und dies auch waren? (Merkwürdigerweise gibt es keinen Nachweis für eine vergleichbare Unterstützung von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt durch das kommunistische Regime Chinas, obwohl es die Sowjetunion nach dem Bruch zwischen beiden Ländern heftigst beschuldigt hatte, die revolutionäre Bewegung zu verraten.) Die Sowjetunion hatte schon längst begriffen, daß die Menschheit nicht durch eine von Moskau gelenkte Revolution transformiert werden konnte. In der langen Dämmerung der Breschnew-Jahre schwand selbst Nikita Chruschtschows lang gehegte Überzeugung dahin, daß der Sozialismus den Kapitalismus allein schon durch seine ökonomische Überlegenheit »begraben« würde. Gut möglich, daß die endgültige Zerstörung dieses Glaubens an die universelle Berufung des Systems eine Erklärung dafür ist, weshalb es sich am Ende ohne jeden Widerstand auflösen konnte (siehe