Das Zeitalter der Extreme. Eric Hobsbawm

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Название Das Zeitalter der Extreme
Автор произведения Eric Hobsbawm
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806239669



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es selbst geschlagen wurde, in Brest-Litowsk verhängt wurde und durch den Polen, die baltischen Provinzen, die Ukraine und große Gebiete im russischen Süden und Westen, wie auch – de facto – Transkaukasien abgespalten wurden (die Ukraine und Transkaukasien wurden wiedergewonnen). Die Alliierten sahen keinen Grund, weshalb sie dem Zentrum der Weltverschwörung gegenüber generös sein sollten. Verschiedenste konterrevolutionäre (»Weiße«) Armeen und Regime erhoben sich gegen die Sowjets, finanziert von den Alliierten, die auch amerikanische, britische, französische, japanische, polnische, serbische, griechische und rumänische Truppen auf russischen Boden entsandt hatten. In den schlimmsten Momenten des brutalen und chaotischen Bürgerkriegs von 1918–20 war Sowjetrußland auf einen landumschlossenen Rumpf in Nord- und Mittelrußland reduziert worden, irgendwo zwischen dem Ural und den heutigen baltischen Staaten, abgesehen von der kleinen, ungeschützten Landzunge von Leningrad, die in den Finnischen Meerbusen ragt. Die einzigen Trümpfe des neuen Regimes, nachdem es aus dem Nichts die schließlich siegreiche Rote Armee improvisiert hatte, waren die Inkompetenz der »Weißen« Truppen und deren Streitigkeiten untereinander; die Tatsache, daß diese sich die russische Bauernschaft zum Feind gemacht hatten; und der wohlbegründete Verdacht der Westmächte, daß sie ihren meuternden Soldaten und Matrosen nicht den zuverlässigen Befehl erteilen konnten, gegen die Bolschewiken zu kämpfen. Ende 1920 stand der Sieg der Bolschewiken fest.

      Entgegen allen Erwartungen hatte Sowjetrußland also überlebt. Die Bolschewiken konnten ihre Macht nicht nur wahren und länger als die Pariser Kommune von 1871 halten (wie Lenin nach zwei Monaten und fünfzehn Tagen mit Stolz und Erleichterung feststellte), sondern auch über Jahre nie dagewesener Krisen und Katastrophen hinweg, trotz deutscher Eroberung und diktierten Friedens, trotz des Verlustes ganzer Regionen, trotz Konterrevolution, Bürgerkrieg, Interventionen ausländischer Armeen, trotz Hunger und Wirtschaftskollaps. In einer solchen Lage konnte Sowjetrußland einfach keine Strategien oder Perspektiven entwickeln, die über die Tag für Tag geforderte Entscheidung zwischen unmittelbarem Überleben und dem Risiko eines unmittelbaren Desasters hinausgingen. Wer konnte es sich schon leisten, all die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden mußten, im Hinblick auf die möglichen langfristigen Auswirkungen auf die Revolution zu bedenken? Hätten sie es getan, wäre die Revolution am Ende gewesen, und es hätte keine langfristigen Auswirkungen mehr gegeben. Schritt für Schritt wurden also die notwendigen Entscheidungen getroffen. Als die neue sowjetische Republik aus ihrer Agonie erwachte, stellte sich heraus, daß sie eine Richtung eingeschlagen hatte, die weit von der entfernt lag, die Lenin bei seiner Ankunft im Finnlandbahnhof im Sinn gehabt hatte.

      Doch auch die Revolution überlebte, und dies hauptsächlich aus drei Gründen. Erstens besaß sie ein einzigartig mächtiges, ja effektiv staatsbildendes Instrument: ihre 600000 Mitglieder starke, zentralisierte und disziplinierte Kommunistische Partei. Was immer ihre Rolle vor der Revolution gewesen sein mag, nun war dieses Organisationsmodell, das Lenin seit 1902 unermüdlich propagiert und verteidigt hatte, bestimmend und präsent. Effektiv alle Revolutionsregime des Kurzen 20. Jahrhunderts sollten sich mehr oder weniger nach ihr ausrichten. Zweitens war dies offensichtlich die einzige Regierung, die in der Lage und willens gewesen war, Rußland als Staat zusammenzuhalten. Daher wurde sie selbst von sonst gegnerischen russischen Patrioten unterstützt – etwa den Offizieren, ohne die die neue Rote Armee nicht hätte aufgebaut werden können. Für diese Patrioten, wie auch für den rückblickenden Historiker, hatte es 1917–18 keine Wahl zwischen einem liberaldemokratischen oder einem illiberalen Rußland gegeben, sondern nur zwischen Rußland und dessen Auflösung – also dem Schicksal der anderen veralteten und besiegten Imperien Österreich-Ungarn und Türkei. Anders als sie konnte die bolschewistische Revolution fast die gesamte multinationale territoriale Einheit des alten zaristischen Staates für vierundsiebzig folgende Jahre bewahren. Der dritte Grund war, daß die Revolution den Bauern gestattet hatte, Land zu übernehmen. Als diese Entscheidung anstand, war die Mehrheit der russischen Bauern – das Herz des Staates wie seiner neuen Armee – davon überzeugt gewesen, daß ihre Chancen, das Land zu behalten, mit den Roten besser stehen würden als mit einem zurückkehrenden Landadel. Diese Entscheidung gereichte den Bolschewiken im Bürgerkrieg 1918–20 zum eigentlichen Vorteil. Wie sich herausstellen sollte, waren die russischen Bauern zu optimistisch gewesen.

      3

      Die Weltrevolution, mit der Lenin seine Entscheidung rechtfertigte, Rußland auf den Sozialismus zu verpflichten, fand nicht statt. Damit war Sowjetrußland für eine Generation in die Verarmung, Rückständigkeit und Isolation getrieben. Die Optionen für seine Zukunft schienen festgeschrieben oder zumindest eingeschränkt (siehe Dreizehntes und Sechzehntes Kapitel). Und doch schwappte in den ersten beiden Jahren nach dem Oktober die Revolution über die ganze Welt und schien zu beweisen, daß die Hoffnungen der sich rüstenden Bolschewiken nicht unrealistisch waren. »Völker hört die Signale«, so beginnt der Refrain der Internationale in Deutsch. Und diese Signale kamen laut und klar aus Petrograd und aus Moskau, nachdem die Hauptstadt 1918 an einen sichereren Ort verlegt worden war.7 Sie wurden überall dort gehört, wo Arbeiterorganisationen und sozialistische Bewegungen, gleich welcher Ideologie, operierten. Die Tabakarbeiter Kubas, von denen nur wenige überhaupt wußten, wo Rußland lag, gründeten »Räte«; in Spanien werden die Jahre 1917–19 noch heute das »Bolschewistische Duo« genannt, obwohl die regionale Linke dort leidenschaftlich anarchistisch war, politisch also dem entgegengesetzten Lager von Lenin angehörte; revolutionäre Studentenbewegungen entstanden 1919 in Peking (Beijing) und 1918 in Córdoba (Argentinien), von wo aus sie sich bald über Lateinamerika ausbreiten und regionale Revolutionsführer und Parteien hervorbringen sollten. Der militante indische Nationalist M. N. Roy war, nachdem in Mexiko die landesweite Revolution 1917 in ihre radikalste Phase eingetreten war, sofort von Rußland begeistert. Natürlich entdeckte man schnell ihre Affinität zum revolutionären Rußland: Marx und Lenin, gemeinsam mit Montezuma, Emiliano Zapata und Indios aus der arbeitenden Klasse, wurden zu ihren Ikonen, die man noch heute in den großen Wandgemälden der Landeskünstler bewundern kann. Innerhalb von nur wenigen Monaten war Roy in Moskau, wo er eine wichtige Rolle bei der Formulierung der Kolonialbefreiungspolitik der neuen Kommunistischen Internationale spielen sollte. Die Oktoberrevolution prägte, zum Teil gefordert von holländischen Sozialisten wie etwa Henk Sneevliet, auch die größte Massenorganisation Indonesiens, die Nationale Befreiungsbewegung »Sarekat Islam«. »Diese Aktion des russischen Volkes«, schrieb eine türkische Provinzzeitung, »wird eines schönen Tages zur Sonne werden und die ganze Menschheit erleuchten.« Im fernen Innern von Australien feierten hartgesottene (und hauptsächlich irisch-katholische) Schafscherer, die ansonsten kein erkennbares Interesse an politischer Theorie zeigten, den Arbeiterstaat der Sowjets. In den USA konvertierten die Finnen, lange Zeit die gläubigsten Sozialisten unter den Immigrantengemeinschaften, massenweise zum Kommunismus und füllten die öden Bergbausiedlungen von Minnesota mit Veranstaltungen, »wo bei der Erwähnung von Lenins Namen das Herz raste … und wir in mystischem Schweigen, in beinahe religiöser Ekstase, alles bewunderten, was aus Rußland kam« (Koivisto, 1983). Kurz gesagt, die Oktoberrevolution wurde überall als welterschütterndes Ereignis empfunden.

      Selbst von jenen, die die Revolution als Kriegsgefangene aus der Nähe miterlebt hatten und daher weniger zur religiösen Ekstase neigten, kehrten viele als überzeugte Bolschewiken und künftige kommunistische Führer in ihre Länder zurück. Der kroatische Mechaniker Josip Broz (Tito) zum Beispiel oder Journalisten, die zur Berichterstattung dabeigewesen waren, wie Arthur Ransome vom Manchester Guardian, der allerdings nicht zu einer besonders bemerkenswerten politischen Figur, sondern vor allem dadurch bekannt werden sollte, daß er seine Passion fürs Segeln in heiteren Kinderbüchern verarbeitete. Eine noch unbedeutendere bolschewistische Rolle spielte der tschechische Schriftsteller Jaroslav Hašek – später schrieb er das meisterhafte Buch Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk –, der sich zum erstenmal in seinem Leben als militanter Vertreter einer Sache erleben sollte und, wie kolportiert wird, das erstaunlicherweise sogar nüchtern. Er hatte als Kommissar der Roten Armee am Bürgerkrieg teilgenommen und war danach mit der Begründung, daß das postrevolutionäre Sowjetrußland nicht seine Sache sei, wieder in seine vertrautere Rolle als Prager Anarchobohemien und Trunkenbold zurückgekehrt. Aber die Revolution