Das Zeitalter der Extreme. Eric Hobsbawm

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Название Das Zeitalter der Extreme
Автор произведения Eric Hobsbawm
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806239669



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im Juni 1944 wieder mit aller Macht den Kontinent betreten hatten, nur schwer brechen ließ und daß es, anders als 1918, keine Anzeichen eines deutschen Aufstands gegen Hitler gab. Nur einige deutsche Generäle, das Herz der aus preußischer Tradition hervorgegangenen Militärmacht und Effektivität, versuchten im Juli 1944 Hitlers Sturz herbeizuführen. Es waren eher rational denkende Patrioten denn enthusiastische Anhänger der wagnerianischen Götterdämmerung, in der Hitlers Deutschland völlig zerstört worden wäre. Doch sie hatten keinerlei Unterstützung von den Massen, ihr Attentat schlug fehl, und en masse wurden sie von Hitlers Getreuen hingerichtet.

      Im Osten gab es noch weniger Anzeichen, daß Japan mit seiner Entschiedenheit, bis zum Ende zu kämpfen, brechen würde. Um eine schnelle Kapitulation Japans zu erzwingen, wurden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Der Sieg 1945 war total, die Kapitulation bedingungslos. Die besiegten Feindstaaten wurden vollständig von den Siegern besetzt. Ein formeller Friede wurde nicht geschlossen, weil zumindest in Deutschland und Japan keine andere Autorität als die der Besatzungsmächte anerkannt wurde. Friedensverhandlungen noch am nächsten kam eine Reihe von Konferenzen zwischen 1943 und 1945, auf denen die wichtigsten Alliierten – die USA, die Sowjetunion und Großbritannien – die Aufteilung der Siegesbeute vereinbarten und versuchten (nicht besonders erfolgreich), ihre gegenseitigen Beziehungen für die Zeit nach dem Krieg zu regeln: 1943 in Teheran, im Herbst 1944 in Moskau, im Februar 1945 in Jalta auf der Krim und im August 1945 in Potsdam. Erfolgreicher war eine Serie von interalliierten Verhandlungen zwischen 1943 und 1945, bei denen ein allgemeiner Rahmen für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den Staaten vereinbart wurde, darunter auch die Gründung der Vereinten Nationen. Dazu später mehr (siehe Neuntes Kapitel).

      Sehr viel mehr noch als der Große Krieg wurde der Zweite Weltkrieg von beiden Seiten bis zum bitteren Ende ausgefochten, ohne daß ernsthaft an einen Kompromiß gedacht worden wäre – abgesehen von Italien, das 1943 sein politisches Regime und die Seiten wechselte; später wurde Italien daher auch nicht als besetztes Gebiet behandelt, sondern als besiegtes Land mit einer anerkannten Regierung. (Was nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken war, daß es den Alliierten während zweier Jahre nicht gelungen war, die Deutschen und eine von ihnen abhängige faschistische »Soziale Republik« unter Mussolini aus der einen Hälfte von Italien zu vertreiben.) Diese Kompromißlosigkeit auf beiden Seiten im Zweiten Weltkrieg, anders als im Ersten Weltkrieg, bedarf keiner besonderen Erklärung. Denn dieser Krieg wurde auf beiden Seiten als Religionskrieg geführt oder, in modernen Worten, als Krieg der Ideologien. Und für die meisten beteiligten Länder war er vor allem ein Kampf ums Überleben. Der Preis der Unterwerfung unter das Regime der deutschen Nationalsozialisten war Versklavung und Tod, wie sich vor allem in Polen, in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und am Schicksal der Juden gezeigt hatte, deren systematische Ausrottung einer ungläubigen Welt Schritt für Schritt bekanntwerden sollte. Folglich wurde der Krieg ohne Einschränkungen geführt. Der Zweite Weltkrieg eskalierte vom Massenkrieg zum totalen Krieg.

      Die wahren durch ihn entstandenen Verluste sind nicht zu errechnen, und selbst approximative Schätzungen sind unmöglich, da in diesem Krieg (im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg) Zivilisten genauso umstandslos getötet wurden wie Soldaten und da das schlimmste Morden in Regionen oder zu Zeiten stattfand, in denen niemand in der Lage oder willens war, die Toten zu zählen. Die unmittelbar durch diesen Krieg verursachten Opfer an Menschenleben liegen vermutlich bei der drei- bis vierfachen Höhe der (geschätzten) Zahlen für den Ersten Weltkrieg (Milward, S. 270; Petersen, 1986) oder, in anderer Zählweise: bei etwa 10–20 Prozent der gesamten Bevölkerung der Sowjetunion, Polens und Jugoslawiens und bei 4–6 Prozent der Bevölkerungen Deutschlands, Italiens, Österreichs, Ungarns, Japans und Chinas. Die Zahl der Opfer in Großbritannien und Frankreich war wesentlich geringer als im Ersten Weltkrieg – etwa 1 Prozent –, doch etwas höher als die der USA. Dennoch, dies bleiben Schätzungen. Die sowjetischen Verluste sind auch von offiziellen Stellen immer wieder mit 7 Millionen, 11 Millionen oder sogar in einer Größenordnung von 20 bis hin zu 30 Millionen beziffert worden. Aber was bedeutet letztlich statistische Genauigkeit, wo Größenordnungen derart astronomisch sind? Wäre das Grauen des Holocaust geringer, wenn Historiker zu dem Schluß kämen, daß Hitler nicht sechs Millionen Juden (die ungefähre, aber fast sicher übertriebene Schätzung), sondern fünf oder vier ausgerottet hätte? Und was bedeutet es letztlich, ob die neunhunderttägige deutsche Belagerung von Leningrad (1941–44) einer Million oder »nur« einer Dreiviertelmillion durch Aushungerung und Erschöpfung den Tod gebracht hat? Können wir Zahlen wirklich begreifen, die jenseits der Realität des Vorstellbaren liegen? Was bedeutet es dem Leser dieser Seite wirklich, daß von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen in Deutschland 3,3 Millionen starben (Hirschfeld, 1986)?

      Der einzig gewisse Sachverhalt hinsichtlich der Kriegsopfer ist, daß insgesamt mehr Männer als Frauen starben. Noch 1959 kamen in der Sowjetunion sieben Frauen im Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren auf vier Männer (Milward, 1979, S. 212). Nach Ende dieses Krieges war es einfacher, Gebäude wiederaufzubauen als die Lebenswirklichkeit der Überlebenden.

      3

      Wir nehmen es als gegeben hin, daß der moderne Krieg alle Bürger in Mitleidenschaft zieht und die meisten von ihnen mobilisiert; daß er mit Waffen geführt wird, deren Produktion der Umleitung der gesamten Wirtschaft bedarf und die in unvorstellbaren Mengen eingesetzt werden; daß er unsagbare Zerstörung mit sich bringt und das Leben der beteiligten Staaten vollständig beherrscht und verwandelt. Doch all diese Phänomene traten erst bei den Kriegen des 20. Jahrhunderts auf. Natürlich hat es auch früher schon tragische und zerstörerische Kriege gegeben, auch solche, die die totale Kriegsführung der Moderne vorweggenommen haben, wie zum Beispiel während der Revolution in Frankreich. Und bis heute ist der Bürgerkrieg von 1861–65 der blutigste Krieg in der Geschichte der USA geblieben, in dem so viele Bürger umkamen wie in allen späteren Kriegen zusammen, die in Korea und Vietnam eingeschlossen. Dennoch waren Kriege, die die gesamte Gesellschaft umfassen, vor dem 20. Jahrhundert die große Ausnahme. Jane Austen schrieb ihre Romane während der Napoleonischen Kriege; doch darauf würde kein Leser kommen, der es nicht vorher schon wußte; denn die Kriege tauchen in diesen Büchern gar nicht auf, auch wenn einige von den jungen Herren, die vorkommen, zweifellos an diesen Kriegen teilgenommen haben. Daß ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts während des Krieges einen vergleichbaren Roman über Großbritannien hätte schreiben können, ist unvorstellbar.

      Das Monster des totalen Krieges des 20. Jahrhunderts ist nicht ausgewachsen geboren worden. Dennoch waren schon seit 1914 alle Kriege eindeutig Massenkriege. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Großbritannien 12,5 Prozent seiner Männer zum Militär eingezogen, Deutschland 15,4 Prozent und Frankreich beinahe 17 Prozent8. Im Zweiten Weltkrieg lag der Prozentsatz der gesamten arbeitenden Bevölkerung, die eingezogen wurde, überall in etwa bei 20 Prozent (Milward, 1979, S. 216). Nebenbei bemerkt kann ein solches Ausmaß an Massenmobilmachung über Jahre hinweg nur von einem modernen und höchst produktiven, industrialisierten Wirtschaftssystem beibehalten werden oder von einer Wirtschaft, die zu großen Teilen in Händen der nichtkämpfenden Zivilbevölkerung liegt. Traditionell agrarische Ökonomien können für gewöhnlich keinen so hohen Anteil ihrer Arbeitskraft mobilisieren, es sei denn saisonal – zumindest in den milden Klimazonen –, denn im agrikulturellen Jahr gibt es Zeiten, in denen alle Hände gebraucht werden, etwa um die Ernten einzubringen. Selbst in den Industriegesellschaften setzt eine so durchgreifende Mobilisierung der Menschen die Arbeitskraft unter enormen Druck, weshalb die modernen Massenkriege auch nicht nur die Macht von Gewerkschaften stärkten, sondern auch die Frauenarbeit außerhalb des Haushalts revolutionierten – temporär im Ersten und permanent im Zweiten Weltkrieg.

      Nochmals, die Kriege des 20. Jahrhunderts waren insofern Massenkriege, als sie im Verlauf der Kämpfe bis dahin unvorstellbare Gütermengen verbrauchten und zerstörten. Daher auch der Begriff Materialschlacht, der geprägt wurde, um Schlachten an der Westfront von 1914–18 zu beschreiben. Napoleon, dem zum Glück nur die extrem begrenzte industrielle Kapazität des Frankreich seiner Tage zur Verfügung gestanden hatte, konnte 1806 mit nur 1500 Artillerieangriffen die Schlacht von Jena gewinnen und damit die Macht Preußens zerstören. Doch selbst vor dem Ersten Weltkrieg hatte Frankreich schon eine