Das Zeitalter der Extreme. Eric Hobsbawm

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Название Das Zeitalter der Extreme
Автор произведения Eric Hobsbawm
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806239669



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für den Fortschritt jener rückständigen Völker sorgen wolle, die den Imperien von der Menschheit ans Herz gelegt worden waren, daß man aber nicht einmal im Traum daran zu denken wagte, diese Völker zu irgendeinem Zweck auszubeuten.) Abgesehen von den Gebietsklauseln war Mitte der dreißiger Jahre vom Versailler Vertrag nichts mehr übrig.

      Was nun die Mechanismen für die Vorsorge gegen einen weiteren Weltkrieg betraf, so war deutlich, daß das Konsortium der europäischen »Großmächte«, die ihn schon vor 1914 hätten verhindern sollen, vollkommen zusammengebrochen war. Die Alternative, zu der Präsident Wilson die hartnäckigen europäischen Politiker mit der Liberalität und Inbrunst eines in Princeton ausgebildeten Politikwissenschaftlers drängte, war ein allumfassender Völkerbund (unabhängiger Staaten), der in der Lage sein sollte, Probleme auf friedliche und demokratische Weise zu lösen, bevor sie aus den Rudern laufen konnten, und dies vorzugsweise durch öffentliche Verhandlungen (»öffentlich verhandelte Staatsverträge«). Denn seit dem Krieg haftete den schon im Normalfall sensiblen Prozessen internationaler Verhandlungen der Ruch von »Geheimdiplomatie« an, was größtenteils eine Reaktion auf die Geheimverträge war, die während des Krieges unter den Alliierten geschlossen worden waren und mit denen das Europa und der Nahe Osten der Nachkriegszeit mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit auf die Wünsche oder auch nur Interessen der Bewohner dieser Regionen neu verteilt werden sollten. Die Bolschewiken hatten diese sensiblen Dokumente, die sie in den zaristischen Archiven entdeckt hatten, prompt vor der Welt veröffentlicht, und daher galt es nun, eine Lektion in Schadensbegrenzung zu veranstalten. Der Völkerbund wurde denn auch in der Tat als Teil des Friedensvertrages ins Leben gerufen, erwies sich jedoch als völliger Mißerfolg, abgesehen von seiner Rolle als Institution zur Erstellung von Statistiken. Immerhin konnte er in seiner ersten Zeit ein bis zwei kleinere Dispute beilegen, die den Weltfrieden jedoch nicht weiter gefährdet hatten (beispielsweise den Disput zwischen Finnland und Schweden um die Ålandinseln7). Die Weigerung der USA, dem Völkerbund beizutreten, hatte ihn nicht zu wahrer Bedeutung kommen lassen.

      Es ist nicht unbedingt notwendig, auf die Einzelheiten der Zwischenkriegsgeschichte einzugehen, um erkennen zu können, daß der Versailler Vertrag keine Basis für einen dauerhaften Frieden sein konnte. Er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und daher war ein neuer Krieg praktisch gewiß. Wie wir wissen, sind die USA schnell wieder aus dem Vertrag ausgestiegen; und in einer Welt, die nicht mehr eurozentriert und eurobestimmt war, konnte kein Vertrag Beständigkeit haben, der nicht auch von den zu einer Weltmacht aufgestiegenen Vereinigten Staaten unterschrieben wurde. Wir werden noch sehen, daß dies auch für alle kommenden weltwirtschaftlichen und politischen Verträge gelten sollte. Zwei europäische Großmächte, ja sogar Weltmächte, waren für eine Weile nicht nur aus dem internationalen Spiel ausgeschlossen, sondern als unabhängige Spieler überhaupt nicht mehr präsent: Deutschland und Sowjetrußland. Doch sobald sie oder einer von ihnen die Szene wieder betreten sollten, konnte kein Friedensvertrag halten, der ausschließlich auf Großbritannien und Frankreich basierte – denn auch Italien war nicht zufriedengestellt worden. Und früher oder später mußten Deutschland und/oder Rußland unvermeidlich wieder als Hauptdarsteller in Erscheinung treten.

      Die geringen Chancen, die dieser Friede überhaupt noch hatte, wurden von den Siegermächten torpediert, indem sie sich weigerten, die Verlierer wieder zu integrieren. Richtig ist, daß sich die vollständige Knebelung Deutschlands und die vollständige Ächtung Sowjetrußlands bald schon als nicht durchführbar herausstellten, aber die Anpassung an diese Realität verlief äußerst langsam und nur unter großem Zögern. Vor allem die Franzosen verabschiedeten sich nur unwillig von der Hoffnung, Deutschland schwach und hinfällig halten zu können (die Briten wurden ja auch nicht von Alpträumen aus Niederlage und Besatzungszeit verfolgt). Was nun die Sowjetunion anbelangt, so hätten es die Siegermächte sicher vorgezogen, wenn es sie überhaupt nicht gegeben hätte. Also zeigten sie sich von ihrem Überleben auch kaum begeistert, vor allem nachdem sie die Armeen der Konterrevolution im russischen Bürgerkrieg unterstützt hatten und ihnen mit eigenen Truppen zu Hilfe geeilt waren. Sogar ihre Geschäftsleute schlugen Angebote mit weitreichenden Konzessionen aus, die Lenin ausländischen Investoren bei seiner verzweifelten Suche nach irgendeiner Möglichkeit machte, eine von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg beinahe vollständig zerstörte Wirtschaft wiederaufzubauen. Sowjetrußland wurde gezwungen, sich in der Isolation weiterzuentwickeln. Und nur die beiden geächteten Staaten Europas, Sowjetrußland und Deutschland, sollten sich, auch wenn aus politischen Gründen, schließlich Anfang der zwanziger Jahre näherkommen.

      Vielleicht hätte der nächste Krieg verhindert oder wenigstens verzögert werden können, wenn die Vorkriegswirtschaft wieder als global expandierendes System des wachsenden Wohlstands hergestellt worden wäre. Doch nach nur wenigen Jahren, als die Weltwirtschaft Mitte der zwanziger Jahre die Zerreißprobe nach Krieg und Nachkrieg bestanden zu haben schien, stürzte sie in die größte Krise seit der industriellen Revolution (siehe Drittes Kapitel). Hand in Hand damit kamen in Deutschland und Japan rechtsextremistische politische und militärische Kräfte an die Macht, die durch Konfrontation und nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln (anstatt durch Schritt für Schritt ausgehandelte Transformation) den Bruch mit dem Status quo herbeizuführen suchten. Von da ab wurde ein neuer Weltkrieg nicht nur vorhersehbar, sondern in der Tat auch regelmäßig vorhergesagt. Wer in den dreißiger Jahren heranwuchs, der lebte in der ständigen Erwartung eines solchen Krieges. Bilder von Flugzeuggeschwadern, die Bomben auf Städte werfen, und von alptraumhaften Gestalten in Gasmasken, die wie Blinde ihren Weg durch Giftgaswolken tasten, spukten in den Köpfen der Generation des Autors – prophetisch wahr die ersten, irrtümlich die letzten.

      2

      Über die Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, gibt es sehr viel weniger historische Literatur als über die für den Ersten, und das aus ersichtlichem Grund. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen hat nämlich kein seriöser Historiker je bezweifelt, daß Deutschland, Japan und (etwas zögernder) Italien die Aggressoren waren. Die Staaten, die gegen diese drei in den Krieg hineingezogen wurden, hatten ihn, ob sie nun kapitalistisch oder sozialistisch waren, nicht gewollt und in den meisten Fällen auch versucht, ihn zu verhindern. Die Frage, wer oder was den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, kann ganz einfach mit zwei Wörtern beantwortet werden: Adolf Hitler.

      Aber Antworten auf historische Fragen sind natürlich niemals derart einfach. Wie wir wissen, hatte der Erste Weltkrieg eine völlig instabile Lage in der Welt und vor allem in Europa und im Nahen Osten geschaffen. Deshalb konnte der Friede nicht von Dauer sein. Und Unzufriedenheit mit dem Status quo herrschte nicht nur in den besiegten Staaten, obwohl gerade sie – vor allem Deutschland – eine Menge von Gründen zu haben meinten und auch tatsächlich hatten, Groll zu hegen. Die Parteien in Deutschland, von den Kommunisten auf der extremen Linken bis hin zu den Nationalsozialisten auf der extremen Rechten, wetteiferten dabei, den Friedensvertrag von Versailles zu verteufeln, weil sie ihn ungerecht und unannehmbar fanden. Paradoxerweise hätte eine wirklich deutsche Revolution auch ein international weit weniger explosives Deutschland hervorbringen können, wie am Beispiel jener beiden besiegten Staaten zu sehen ist, die sich tatsächlich revolutionierten, nämlich Rußland und die Türkei: Diese waren viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten und der Verteidigung ihrer Grenzen beschäftigt, um auch noch die internationale Lage destabilisieren zu können. Im Gegenteil, in den dreißiger Jahren wirkten sie sogar stabilisierend; und die Türkei blieb im Zweiten Weltkrieg neutral. Aber auch in Japan und Italien herrschte Unzufriedenheit, obwohl beide Staaten zur Siegerseite gehörten. Die Japaner bewiesen allerdings etwas mehr Realismus als die Italiener, deren imperialer Appetit die unabhängige Macht des Staates, ihn zu stillen, bei weitem überschritt. Italien war jedenfalls aus dem Krieg mit beträchtlichen territorialen Zugewinnen in den Alpen, an der Adria und sogar in der Ägäis hervorgegangen, wenn auch nicht mit der ganzen Ausbeute, die dem Staat von den Alliierten als Gegenleistung für seinen Kriegsbeitritt 1915 versprochen worden war. Der Sieg des Faschismus, einer konterrevolutionären und daher ultranationalistischen und imperialistischen Bewegung, förderte diese Unzufriedenheit in Italien jedoch noch zusätzlich. Japan half die beträchtliche Stärke seines Militärs und seiner Marine, um zur stärksten Macht im Fernen Osten zu werden, vor allem nachdem Rußland von der Bildfläche verschwunden war. Bis zu einem gewissen