4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018. Christoph-Maria Liegener

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Название 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018
Автор произведения Christoph-Maria Liegener
Жанр Зарубежные стихи
Серия
Издательство Зарубежные стихи
Год выпуска 0
isbn 9783746992471



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dass das Leben weiter geht. Du versuchst dich zu beruhigen. Du bist wütend. Du versuchst dich zu beruhigen und das macht dich noch wütender. Du atmest durch. Du wirst sauer. Du weinst, weil du weißt, du bist im Unrecht. Du keifst jemanden an, wegen etwas Banalem. Wegen etwas Wichtigem. Wegen etwas. Dann sind alle verschwunden. Du kannst dich nicht erklären. Es tut dir leid. Alles tut dir leid. Du weißt, dass du erklären musst. Du wünschst dir, du könntest dich verstehen. Aber du verstehst nichts. Du weißt nichts. Bist nichts. Du nimmst Schlaftabletten. Du kiffst. Du trinkst. Du schläfst nicht. Du machst weiter. Du tust, was du musst. Dann fängst du an, weniger zu tun, was du musst. Du stiehlst Zeit. Du wartest. Du wartest darauf, wieder glücklich zu sein. Oder wieder zu leben. Oder zu sterben. Oder auf morgen. Du wartest.

      Dann läufst du los.

      Du weißt nicht wohin. Du läufst einfach los. Du bemerkst, dass du am Tempelhofer Feld entlang läufst. Über den Wolken kommt dir in den Sinn. Du fragst dich, wann du das letzte Mal geflogen bist. Du bist auf dem Weg nach Zehlendorf. Du merkst es nicht sofort, aber dann wird es dir plötzlich klar. Du schmeißt Google Maps an. Es funktioniert nicht. Der Nieselregen setzt ein. Du denkst, dass Google Maps nie funktioniert und fluchst ein bisschen. Du läufst einfach weiter. Den Weg den du als Beifahrer kennst. Du kannst dich nicht erinnern, wann du das letzte Mal im Flieger warst. Jemand hupt. Jemand schreit dich an. Jemand greift nach deinem Arm. Du reißt dich los. Du läufst weiter. Läufst. L.Ä.U.F.S.T.

      Du hebst deinen Blick, als die Stimmen um dich verstummen. Der Geruch von Benzin liegt in der Luft. Trübes Licht spiegelt sich in angestauten Wasserpfützen. Böen wirbeln den Dreck der Straße auf. Der wild rotierende Regen legt sich wie ein Schleier über dein Blickfeld. Du hältst die Hand vor deine Augen, aber du kannst nur seine sehen. Reifen quietschen, verteilen harte Wasserschläge gegen dich. Du versuchst dich zu orientieren. Der Weg ist verschwunden. Die Häuser sind weg. Du siehst keine Bäume mehr. Von irgendwo tönen Sirenen. Du schaust zurück, stellst fest, dass du schon ziemlich weit gekommen bist. Dann klopft die Realität an deine Wahrnehmung. Du weißt nicht, wie du auf der Autobahn gelandet bist. Du denkst, es war eine Schnappsidee zu Fuß über die Autobahn zu laufen. Du fluchst ein bisschen. Dann willst du zurück. Das nervöse Hupen hindert dich. Es dröhnt in deinen Ohren. Du schaust auf deine Turnschuhe. Du denkst dir, dass es Schwachsinn war Turnschuhe für den langen Weg anzuziehen.

      Dann spürst du den bebenden Asphalt unter deinen Sohlen.

       Gregor Bähr

       Bodo und ich

      Wir fahren beide häufig Aufzug, Bodo und ich. Schade nur, dass wir nie Mitfahrer haben. In einem Gebäude mit 24 Stockwerken (wir wohnen ganz oben) ist die Anonymität ja vorprogrammiert. Da wäre die Fahrt im Aufzug, die aus unserer Höhe ins Erdgeschoss immerhin rund 2 Minuten dauert, eine gute Gelegenheit, Bekanntschaften durch einen kleinen Schwatz anzubahnen. Aber, wie gesagt, wenn Bodo und ich drin sind, will niemand mehr zusteigen. Das gab mir zu denken.

      An wem liegt es, an mir oder an Bodo? Zugegeben: Ich habe etwas Mundgeruch und er lehnt Deos prinzipiell ab. Beide Eigenschaften scheinen mir aber keine hinreichenden Gründe zu sein für das, ja ich muss schon sagen, diskriminierende Verhalten der potenziellen Fahrstuhlmitfahrer.

      Deshalb beobachtete ich eine Zeit lang genau den Blickverlauf der Aufzugverweigerer, wenn sich die Kabinentür öffnete und musste bald zur Kenntnis nehmen: Bodo ist schuld. Denn immer, wenn die Wartenden ihn sehen, lassen sie uns allein weiterfahren. Ich werde überhaupt nicht wahrgenommen, sofort zieht er die Blicke auf sich. Das müsste mich eigentlich eifersüchtig machen. Aber da die Leute offenbar seinetwegen nicht in die Fahrstuhlkabine kommen wollen, macht es mich traurig und ihn sicher auch. Ich streiche ihm dann sanft über seine starken Schultern und er blickt mir tief in die Augen. Wir sind ein zwar einsames, aber doch glückliches Paar – mein Bengal-Tiger Bodo und ich.

      Auch wenn man zu zweit glücklich ist – welches Paar hält es auf Dauer aus, dass die Leute nichts mit einem zu tun haben wollen, schon gar nicht mit einem ausgewachsenen Bengal-Tiger. Dabei ist er vollkommen zahm. Jeder neurotische Stubenkater ist zehnmal aggressiver. Aber wenn ich mit Bodo unterwegs bin und die Leute uns kommen sehen, wechseln sie rasch die Straßenseite. Gut, das erleichtert das Vorankommen in frequentierten Fußgängerzonen. Trotzdem…

      Alles mögliche habe ich schon unternommen, um aus dieser Isolation herauszukommen. Beispielsweise band ich Bodo um Schwanz und Hals rosa Schleifen, um ihn so harmlos aussehen zu lassen, wie manche Pudel oder Yorkshire-Terriers von älteren Damen. Es half aber nichts.

      Ein anderer Versuch war die ‚Aktion Sandwichman’: Wenn ich mit Bodo ausging, hängte ich mir zwei Plakate über Front und Rücken, auf denen schon von Ferne zu lesen stand: „Tiger ‚Bodo’ ist absolut zahm. Einfach hinterm Ohr kraulen.“ Niemand kraulte ihn. Nach wie vor wichen uns die Menschen in großem Bogen aus.

      Dann überlegte ich, ob ich ihn nicht einfach wie eine harmlose, grau-schwarz getigerte (sic!) Hauskatze aussehen lassen konnte. Ich fand aber leider keinen Coiffeur, der die etwas langwierige Prozedur übernehmen wollte, nur die honiggelben Fellanteile in ein warmes Mittelgrau zu tönen. Wahrscheinlich hätte ich das auch gar nicht bezahlen können, wenn Mode bewusste Damen schon für eine Zweieinhalb-Stunden-Sitzung hundert Euro berappen müssen.

      Bodo gähnt gerne ausdauernd und ungeniert, auch in der Öffentlichkeit. Die Versuche, ihn dazu zu bringen, sich die Pfote vors Maul zu halten, scheiterten. Ich sah ein, dass die Dolche seiner Eckzähne bei furchtsamen Menschen Angst und Schrecken auslösen können. Deshalb zog ich in Erwägung, ob ich ihm die Eckzähne ziehen lassen sollte. Dann könnte ich auf meinen Sandwich-Tafeln den Text optimieren: „Bodo, der zahnlose Tiger! Garantiert zahm. Kitzeln Sie ihm den Gaumen!“ Aber leider fand ich keinen Zahnarzt, auch die Kleintierpraxis hielt sich nicht für kompetent.

      Das einzige Lebewesen, das keine Angst vor Bodo zu haben schien, war neulich ein Langhaar-Dackel, der ihn völlig hysterisch verkläffte. Bodo ließ sich das eine Weile gefallen. Aber irgendwann war er genervt. Er stieß einen kurzen, kräftigen Brüller aus und ich sah, wie das Langhaar und die Schlappohren des Dackels nach hinten geblasen wurden und der Dackel fast hinterher. Daraufhin klemmte der Hund die Rute zwischen die Hinterbeine und trollte sich. Nicht, ohne noch einmal aus sicherer Entfernung ein aufbegehrendes, aber letztlich doch kleinlautes 'bäff' von sich zu geben. –

      Ich lebe in der falschen Welt. Eine Lebenspartnerschaft mit einem Tiger ist darin nicht vorgesehen. Überall stoßen wir auf Ablehnung. Dabei sehnen wir uns beide doch nach Gemeinschaft auch mit Anderen. All die Versuche, die ich zu unserer Integration unternommen habe und der gute Wille, den ich immer wieder demonstriere, laufen ins Leere. Wir werden weiterhin ausgegrenzt und gedemütigt. Das Recht auf eine Lebensgemeinschaft wird uns abgesprochen, die doch auf tiefer, gegenseitiger Sympathie beruht. Wäre es anders, hätte mich Bodo längst zum Frühstück verspeist.

      Manchmal denke ich: Ach, täte er es doch! Ich bin es so leid, immer und immer wieder für unsere Anerkennung kämpfen zu müssen. Würde er es tun, dann wüssten doch alle endgültig: Er hat mich zum Fressen gern! Allerdings, das weiß ich auch ohne diesen Liebesbeweis.

       Svenja Volpers

       Gleichschritt

      Ich freue mich, wenn es regnet,

      denn dann werde ich unsichtbar;

      mein Regenschirm dient als Abschirmung

      vor ihren Gesichtern, ihren Blicken,

      den Gedanken, die ich in ihnen lese;

      ich sehe nicht auf, sehe nur auf meine Füße,

      die Straße vor mir, andere fremde Füße,

      schnelle Füße bewegen sich ungeordnet,

      unkontrolliert, ohne Rhythmus, beängstigend;

      ich aber gehe im Metrum der Musik

      in meinem Kopf, weiche aus, komme aus dem Takt,

      schwanke, stolpere fast, fange mich wieder,

      muss wach bleiben, nicht versinken

      im