Windmühlentage. Katrin Köhl

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Название Windmühlentage
Автор произведения Katrin Köhl
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347087347



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Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum und zog einige Papierstapel hinter der Theke hervor.

      »Isvini, entschuldige bitte, ich komme gleich wieder. Könntest du die hier solange schon sortieren?«

      Ehe Eva etwas sagen konnte, war er zur Tür hinaus. Die Papierstapel hatte er auf einen der Bistrotische gelegt. Eva machte einen Schritt in den Raum, blieb wieder stehen, schaute nach draußen. Unvermindert prasselte der Regen auf die Straße. Sie ging zum Tisch und nahm einen der Stapel. Ein Stadtplanausschnitt, auf dem der Weg von einem Hotel im Westen Zürichs zum Theater eingetragen war. Daneben ein Blatt, das mit Dobro poshalowat¡Bienvenidos!Herzlich willkommen! überschrieben war. Ein Proben- und Ablaufplan, eine Besetzungsliste, eine Übersicht über diverse Workshops und Veranstaltungen. Eva begann, Päckchen mit je einem Exemplar jedes Blattes zu packen.

      »Spasibo bolschoe, vielen Dank!«

      Wieder war er eingetreten, ohne dass sie ihn gehört hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen.

      »Ich bin Sergej.«

      »Sdrawstwujte, guten Tag, ich heiße Eva.«

      Sie hörte ihre eigene Stimme, aber es war, als spräche jemand anderes. Noch nie hatte sie sich in einer fremden Sprache mit jemandem unterhalten. Sie gab ihm die Hand.

      »Du bist nicht Irina? Natascha sagte …«

      Entschuldigend deutete Eva nach draußen.

      »Ich wollte mich nur kurz vor dem Regen unterstellen.«

      Sergej schaute auf die nasse Straße hinaus, nickte. Dann bemerkte er ihren Bauch.

      »Oh verzeih, willst du dich nicht setzen?«

      Er holte zwei Hocker hinter der Theke hervor und setzte sich ihr gegenüber. Erst jetzt merkte Eva, wie ihre Beine schmerzten. Sie nahm eines der frisch sortierten Zettelpäckchen und reichte es ihm.

      »Bekommen Sie Besuch aus Spanien?«

      »Hör auf, mich zu siezen, sonst fühle ich mich alt.«

      Er lachte. Dann strich er sich über die langen Haare, nahm Eva das Zettelpaket ab und wedelte damit durch die Luft.

      »Ja, die Kollegen vom Teatro Cervantes kommen übermorgen, und Natascha liegt mit Lungenentzündung in der Klinik. Katastrophe – beides! Ihre Freundin Irina sollte längst da sein. Wo ist sie?«

      Er hielt einen Moment inne, als erwarte er, dass Irina zur Tür hereinkam. Dann zuckte er die Achseln und schaute Eva an.

      »Du kannst nicht zufällig Spanisch?«

      »Doch.«

      „Ein Wunder!“

      Sergej strahlte. Er ergriff Evas Hände.

      »Wenn du in den nächsten Tagen Zeit hast, könntest du ein einmaliges Theaterprojekt vor dem Untergang bewahren!«

      »Ich habe nichts vor.«

      Sie hatte es gesagt, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte. Sergej ließ ihre Hände los und breitete die Arme aus.

      »Otschen choroscho, prekrasno! Sehr gut, wunderbar! Ich kann dir gleich alles erklären …«

      Er stockte, runzelte die Stirn.

      »Hier ist richtig was los in den nächsten Tagen. Denkst du, dein Kleiner wird das übelnehmen?«

      »Kommt darauf an, was zu tun ist. Schwere Sachen schleppen kann ich nicht.«

      »Natürlich, auf keinen Fall! Du …« – er beugte sich zu ihr vor – »Du wirst die goldenen Brücken bauen, über die unsere Worte gehen können. Du wirst der wundervollen Welt zwischen Russland und Spanien Leben einhauchen. Weil du da bist, werden Jahrhunderte sich berühren können!«

      Sie brauchten eine Übersetzerin. Wenn Sergej es sagte, klang es, als könnte sie selbst Sprachwelten erschaffen, als würde sie damit Teil eines Kunstwerks, das es noch nicht gab.

      »Wir können nicht viel bezahlen.«

      Entschuldigend hob er die Achseln. Dann wedelte er mit der Hand.

      »Für das Praktische ist Alla zuständig, meine Frau. Vielleicht weiß sie auch etwas von Irina. Heute ist sie unterwegs wegen der Requisiten. Komm doch morgen Nachmittag gegen vier wieder, da können wir alles besprechen.«

      Er schaute nach draußen. Dann verschwand er wortlos durch die Tür in den Flur. Als er zurückkam, hatte er einen großen Schirm mit schwarzem Holzgriff und rotgelbem Blumenmuster in der Hand.

      »Den habe ich mal irgendwo mitgehen lassen. Seitdem steht er in der Küche hinter dem Samowar, falls ihn jemand braucht.«

      Sergej stutzte, hob den Arm, schnupperte an dem geblümten Stoff. Dann lachte er.

      »Olga, unsere gute Seele, hat gestern den ganzen Nachmittag Kohl gedünstet. Morgen will sie Piroschki backen.«

      Er streckte Eva den Schirm entgegen.

      »Riecht etwas streng, aber zumindest kommst du so trocken nach Hause.«

      Draußen war es immer noch warm. Eva wandte sich in Richtung Großmünster. Von dort würde sie den Weg zum Hotel finden. Hinter dem Regenschleier verschwammen die Fassaden der Häuser. Passanten eilten an ihr vorbei. Sie blieb einen Moment stehen und lauschte auf das Prasseln des Regens. Der Duft des nassen Asphalts mischte sich mit dem leichten Kohlgeruch des Schirms. Eva öffnete die Augen, lächelte. Einer Laune folgend, bog sie in eine Seitengasse ein.

      Niedrige Häuser, kleine Läden, ein Antiquariat. War sie hier nicht vorhin schon einmal gewesen? Wie hatte sie das aufwändig dekorierte Schaufenster übersehen können? Eva trat unter das schmale Vordach, stellte Sergejs Schirm neben der Tür ab und betrat das Antiquariat.

      Als sie das Geschäft wieder verließ, stellte sie erstaunt fest, dass die Sonne schien. Sergejs Schirm war fast trocken. Eva schwenkte ihn vor sich, während sie die Straße hinunterging. An ihrem Arm hing eine Papiertüte voller Bücher. Eines davon, ein etymologisches Wörterbuch des Altnordischen, hatte schon lange auf ihrer Wunschliste gestanden. Umso erfreuter war Eva, als sie es in einem der Regale entdeckte.

      Unweit des Antiquariats stieß sie auf einen Laden mit Umstandsmode. Eva blickte ins Schaufester. Sollte sie sich etwas zum Anziehen kaufen? Notwendig wäre es nicht. Sicher kam Irina morgen ins Arbat. Eva würde nicht mehr gebraucht und konnte nach Hause fahren. Sie öffnete die Ladentür. Noch wollte sie nicht an daheim denken. Es fühlte sich gut an, Pläne zu haben. Sie würde ihr Hotelzimmer noch einmal verlängern und morgen mit Sergejs Frau Alla sprechen.

      Eva probierte sich durch Kleider, Shirts und Hosen. Sie bewunderte ein kunstvoll besticktes schwarzes Abendkleid für Schwangere und unterhielt sich mit der Verkäuferin über verschiedene Varianten von Stützstrümpfen, die bei den derzeitigen Temperaturen ohnehin alle zu warm waren. Die Schatten wurden bereits länger, als sie mit einer weiteren großen Tüte den Laden verließ. An einem Straßenstand kaufte sie sich ein Eis. Auf dem Weg zum Hotel summte Eva die Melodie von Bulat Okudschawas Lied vom Arbat:

      »Ach, Arbat, moj Arbat, ty mojo otetschestwo,

      Nikogda do konza ne projti tebja!

      Ach Arbat, mein Arbat, du bist mein Vaterland,

      nie kann ich dich ganz bis zum Ende gehen.«

      Irgendwo läutete eine Kirchenglocke. Es war, als wolle sie Eva in ihrem Summen begleiten.

       Zürich – 22.6.

      Das Erste, was Eva sah, als sie die Augen aufschlug, war der kleine Bücherstapel auf dem Nachttisch. Sie lächelte, streckte die Hand nach dem Wörterbuch des Altnordischen aus. Auf dem Stuhl hingen die Sachen, die sie im Umstandsmodengeschäft gekauft hatte. Eines der T-Shirts und einen weiten Rock würde sie heute anziehen. Auf dem Tisch vor dem Fenster lag die große Tüte mit dem bunten Logo des Ladens. Daneben ein paar Postkarten, der Flyer eines Raclette-Restaurants und diverse Kassenzettel ihrer Einkäufe. Eva blätterte