Die Unwerten. Volker Dützer

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Название Die Unwerten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783839263648



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sich ohnehin geweigert, das Land ohne Malisha zu verlassen. So suchte Joschi weiter nach einem Ausweg.

      Hannah verschlang die Bücher, die Schwester Katharina ihr lieh schneller als das karge Klosteressen. Sie las über Franz von Assisi, der mit den Tieren sprach, wohnte in Onkel Toms Hütte, jagte mit Ahab den weißen Wal und streifte mit Robin Hood durch den Sherwood Forest.

      Schwester Katharina entdeckte Hannahs Karikaturen – darunter eine Zeichnung der dicken Nonne Gertrud – und erstickte beinahe an einem Lachanfall. Sie drückte ihr Die letzten Tage von Pompeji von Edward Bulwer-Lytton in die Hand und sagte feierlich: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.«

      Über diesen sonderbaren Satz sann Hannah lange nach, ohne ihn wirklich zu begreifen.

      Schwester Gertrud begann, ihr das Leben schwer zu machen. Hannah ging ihr aus dem Weg, wo sie konnte, deutlich spürte sie die wachsende Abneigung der Nonne. Gertrud trug ihr die schwersten und unangenehmsten Arbeiten auf, die sie stoisch erduldete und ausführte. Hannah musste die Körperausscheidungen von verwirrten und inkontinenten Pfleglingen beseitigen und stundenlang Toiletten, Böden und Flure putzen. Je schmutziger die Arbeit war, umso mehr Genugtuung schien sie Gertrud zu bereiten. Die Aussicht auf ein neues Buch ließ Hannah die anstrengenden Tage überstehen. Ihr Hunger auf weiteres Lesefutter war kaum zu stillen. Sie begleitete Odysseus auf seiner gefahrvollen Heimfahrt, arbeitete sich verbissen durch die schwierige Sprache Shakespeares und gewann Freunde in Der Wind in den Weiden.

      Anfang Mai gab der Winter endlich auf und machte zaghaften Frühlingsboten Platz. Hannah sehnte sich danach, im Gras zu liegen, sich im weiten blauen Himmel zu verlieren und in den dahinjagenden Wolkenformationen nach vertrauten Umrissen und Bildern zu suchen.

      Am Morgen des 10. Mai, einem Freitag, klopfte sie an die Tür zur Bibliothek. Als niemand sie aufforderte einzutreten, drückte sie die Klinke nach unten und schlüpfte leise durch den Türspalt. Zu ihrer Bestürzung erblickte sie nicht Schwester Katharina, sondern Getrud, die ächzend einen Stapel Bücher schleppte und auf das Lesepult donnerte.

      »Was willst du?«, fragte sie mürrisch.

      »Ich möchte ein Buch zurückgeben, das Schwester Katharina mir geliehen hat.« Sie legte eine zerlesene Ausgabe des Nibelungenlieds auf den Tisch. »Soll ich es an seinen Platz stellen?«

      »Nein. Ich erledige das.« Getrud wandte sich dem Bücherstapel zu. Achtlos und ohne Katharinas Behutsamkeit stopfte sie die Bücher in Lücken in den Regalen.

      »Wo ist Schwester …«

      »Sie ist krank. Ich übernehme jetzt die Leitung der Bibliothek.«

      Hannah wandte sich um. Es hatte keinen Sinn, die Nonne um ein neues Buch zu bitten, sie würde ihr keins geben. Sie schloss die Tür hinter sich und ging zum ersten Mal seit vielen Wochen ohne neue Lektüre in den Gästetrakt zurück.

      Funkelndes Sonnenlicht überflutete den Kreuzgang, der Duft von Kräutern und Heilpflanzen erfüllte die Luft. Auf dem Weg zu ihrer Zelle kam sie an einer Pforte vorbei, die stets verschlossen war. Durch die Fenster der Klostertrakte hatte sie gesehen, dass sich dahinter Felder und Wiesen erstreckten, die sanft zum Horizont anstiegen. Sie blieb stehen. Seit drei Wochen warteten sie auf Neuigkeiten von Joschi. Malisha bemühte sich, ihre Sorge zu verbergen, aber Hannah war klar, dass sie sich nicht ewig bei den Schwestern verstecken konnten.

      Der Wind trug das Morgenkonzert der Vögel aus dem nahen Wald herüber. Draußen, jenseits der Klostermauern, musste es jetzt herrlich sein. Hannah blickte sich verstohlen um; sie war allein, keine der Nonnen arbeitete im Garten. Die Pforte lag tief im Schlagschatten des Pultdachs verborgen. Hannah konnte der Versuchung nicht widerstehen und zog den Riegel zurück. Die schmale Tür schwang leise knarrend auf. Das eindringende Licht fiel als helles Rechteck auf den Boden und hob sich lockend vom Halbdunkel des Kreuzgangs ab.

      Sollte sie es wagen? Nur eine Stunde, die ihr gehören würde und die sie unter dem weiten, freien Himmel verbringen könnte.

      Ihr Herz pochte heftig, als sie durch die Pforte schlüpfte und über die Wiesen auf den Wald zulief. Im Schatten von Kiefern und Buchen, an denen erstes zartes Grün spross, schöpfte sie Atem und lief weiter die bewaldeten Hügel hinauf bis zu einer Lichtung, auf der Hahnenfuß und Klatschmohn blühte. Dort ließ sie sich in das Gras sinken, drehte sich auf den Rücken und wartete, bis sich ihr rasender Herzschlag verlangsamte. Hannah tauchte in den fast wolkenlosen Himmel ein, der sich über ihr wölbte wie eine Kuppel aus blauem Glas. Alles schien von den Füßen auf den Kopf gestellt, so wie die aus den Fugen geratene Welt, in der sie lebte.

      Nachdem sie sich sattgesehen hatte, sprang sie auf die Füße, pflückte Maiglöckchen und Margeriten, die sie Malisha mitbringen wollte, und wanderte an den Rand der Wiese. Zu ihren Füßen lag das Kloster, das sie zum ersten Mal von außen sah. Es lag in einer Senke und hatte die Form eines schiefen Quadrats.

      Hannah schlenderte weiter zur Kuppe des Hügels. Dörfer, deren Namen sie nicht kannte, lagen winzig wie Spielzeugstädte zwischen den Feldern. Irgendwo im Westen, unsichtbar hinter dem Horizont, lagen Frankreich und Belgien. Wenn nur Joschi endlich mit einer guten Nachricht käme.

      Ein leises, weit entferntes Brummen riss sie aus ihren Gedanken. Sie hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. Hoch am Himmel zog ein Flugzeug seine Bahn. Wie wunderbar musste es sich anfühlen, von dort oben auf die Welt hinabzublicken. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab und ging langsam rückwärts, um das winzige Kreuz nicht aus den Augen zu verlieren, und stieß gegen ein Hindernis.

      Erschrocken drehte sie sich um und ließ den Blumenstrauß fallen. Ein Junge mit flachsblondem Haar, ein, zwei Jahre älter als sie selbst, stand vor ihr. Er trug eine kurze Lederhose, ein khakibraunes Hemd und ein schwarzes Halstuch. In einer Scheide an seinem Gürtel steckte ein Fahrtenmesser. Er bückte sich nach den Blumen und reichte sie ihr.

      »Du hast was verloren«, sagte er.

      Hannah nahm den Strauß an sich. »Da… danke.«

      »Ich bin Peter.«

      »Hallo.«

      »Ich hab dich hier noch nie gesehen.«

      Sie antwortete nicht, in ihrem Kopf drehte sich alles. Wenn sie nur ein Wort zu viel von sich preisgäbe, konnte das schreckliche Folgen haben … für sie und Malisha … und für die Mutter Oberin.

      Der Junge legte den Kopf in den Nacken. »Das ist ein Aufklärer«, sagte er, »’ne Heinkel He 70. Sieht man an den Flügelenden.«

      Hannah war einer Panik nahe und suchte nach einem Fluchtweg. Sie konnte nicht geradewegs durch die Wiesen ins Tal laufen, sonst würde er wissen, dass sie zum Kloster wollte.

      Er schien ihre Panik nicht zu bemerken, schwatzte munter drauf los und gab sich wichtig.

      »Jetzt geht der Krieg richtig los. Der Führer hat den Westfeldzug gestartet. Ich wette, die Holländer ergeben sich in den nächsten zwei Tagen.«

      »West…feldzug?«

      Er sah sie an, als hätte sie etwas furchtbar Dummes gesagt. »Das kam über den Rundfunk. Der Führer hat eine Rede gehalten. In höchstens einer Woche stehen unsere Truppen am Atlantik. Dann rollen wir die Franzmänner von Norden her auf. Kluger Schachzug vom Führer übrigens. Alle haben gedacht, er zaudert, dabei hat er nur den richtigen Moment abgepasst. Trotzdem wird der Krieg sich noch ’ne Weile hinziehen. Das hoffe ich wenigstens.«

      »Warum?«, fragte sie instinktiv.

      »Na, sonst krieg ich ja keine Gelegenheit mehr zu zeigen, dass ich ein guter Soldat bin. Schließlich will ich Deutschland dienen und meine Pflicht erfüllen.«

      »Du willst dich erschießen lassen?«, platzte sie heraus.

      Er verdrehte die Augen. »Mädchen! Vom Soldatenleben versteht ihr eben nichts. Ich schieße natürlich als Erster. Außerdem kann uns Deutsche sowieso keiner besiegen. Wir sind vom Schicksal dazu bestimmt, über die niederen Rassen zu herrschen. Wir können den Krieg gar nicht verlieren.« Er deutete auf die Blumen. »Was machst du eigentlich hier?«

      »Ich