Schattenklamm. Mia C. Brunner

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Название Schattenklamm
Автор произведения Mia C. Brunner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839249604



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sie sich wirklich hineinversetzen in all diese Frauen, die auf der Hamburger Reeperbahn aus den unterschiedlichsten Gründen anschaffen gingen. Trotz der Demütigungen, denen sie täglich ausgesetzt waren, trotz der Abhängigkeit von Freiern und dem eigenen Zuhälter gab ihnen das abartige und unterwürfige Begehren in den Augen der notgeilen Männer eine gewisse Art von Macht, eine Überheblichkeit und Stärke, die sie durchhalten ließ und die sie für ihren eigenen Selbstwert nur zu gut gebrauchen konnten. Wenn man die Sache aus ihrer Sicht betrachtete, waren sie diejenigen, die Macht ausübten und viel stärker waren als all die kleinen Schwächlinge, denen die herrschsüchtige Ehefrau zu Hause oder eigene solide Handarbeit einfach nicht ausreichte.

      Zufrieden lächelnd schlenderte Jessica mit ihrem Tablett hinter den Tresen und stellte die leeren Gläser auf die Ablage neben dem Spülbecken. Sie verschaffte sich einen kurzen Überblick über den Gastraum und stellte fest, dass alle ihre Tische gut versorgt waren und nirgends auch nur ein annähernd leeres Glas zu sehen war. Jetzt, um kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger in der Kneipe. Ruhig allerdings nicht im eigentlichen Sinne, denn der Geräuschpegel nahm im Laufe des Abends stetig zu, doch die Anzahl der Gäste war jetzt überschaubar, ab 23 Uhr konnte auch kein warmes Essen mehr bestellt werden und die Bedienungen hatten deutlich weniger zu tun. Um diese Uhrzeit saßen die meisten der Gäste auch nicht mehr an den Tischen, sondern direkt an der Theke. Die Arbeit im Thekenbereich erledigte fast ausschließlich Paula, eine junge, vollbusige und rothaarige Frau, die genau wegen dieser körperlichen Attribute vom Chef hier platziert worden war und bei den Kneipengästen hervorragend ankam. Sie plauderte und flirtete mit den Männern am Tresen und Jessica war sich sicher, dass der eine oder andere Gast auch mal mehr Service von ihr geboten bekam als nur einen tiefen Einblick in ihr allzu üppiges Dekolleté. Dennoch hatte sich Jessica von Beginn an ausgezeichnet mit Paula verstanden.

      »Hi, Jess. Läuft alles gut?«, fragte die rothaarige Kollegin und begann, die mitgebrachten Gläser zu spülen.

      »Alles prima, Paula. Jetzt wird’s ja auch etwas ruhiger.« Jessica ließ sich auf den kleinen Hocker plumpsen, der hinter der Theke stand. Sie wusste, dass Markus Mertens diese offensichtlichen Pausen nicht guthieß, doch da er heute nicht in der Kneipe war, nutzte Jessica die Gelegenheit, kurz ihre Beine auszustrecken und aus ihren Schuhen zu schlüpfen.

      »Du, Jess?« Paula drehte sich zu ihr um, setzte ein beinahe sorgenvolles Gesicht auf und hob gleichzeitig fragend ihre Augenbrauen. Sie hatte eine ganz eigene theatralische Art, Dingen, und seien sie noch so unwichtig, durch einen dramatischen Gesichtsausdruck mehr Präsenz zu verleihen.

      »Was denn?«

      »Kannst du mich nachher mitnehmen? Mein Auto streikt schon wieder. Ich muss die olle Karre morgen wohl wirklich in die Werkstatt bringen.« Ein heftiges Kopfschütteln und ein Griff mit der Hand an ihre Schläfe unterstrichen auch dieses Mal die Dramatik eines Werkstattbesuches und das tragische Schicksal eines autolosen und damit verlorenen Mädchens.

      »Klar.« Jessica schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie Paula nach Hause brachte, und es war auch nicht gerade auf dem Weg, somit auch kein »Mitnehmen«, sondern eher ein unglaublicher Umweg, doch Jessica machte es gern. Sie liebte das Autofahren, besonders in der Nacht. Es gab ihr die Gelegenheit zum Nachdenken und Ruhe finden. Im Auto konnte Jessica prima entspannen.

      Eine Stunde später saß Paula neben Jessica auf dem Beifahrersitz und plapperte fast ununterbrochen. Jessica konnte nach einem Abend in der Kneipe gar nicht verstehen, dass ihre Kollegin immer noch so ein Mitteilungsbedürfnis hatte. Man konnte doch annehmen, sie hätte seit Stunden nichts anderes getan, als zu reden, zu lächeln und zu flirten. Um 1 Uhr Nachts sollte man ruhig sein, die Dunkelheit genießen und nur noch das leise Brummen des Motors hören müssen. Auch das Radio blieb bei Jessica in der Nacht immer aus, obwohl sie sonst geradezu ein Musik-Junkie war, alte und neue Rocksongs liebte und auch in einer Lautstärke hörte, die für ihre Ohren nicht mehr gesund war. Genau aus diesem Grund brauchten ihre Ohren nachts ihre Ruhe.

      Genervt schaltete sie in den dritten Gang runter und gab richtig Gas, als sie auf die B 12 fuhr, um nach Wildpoldsried zu kommen. Ihr BMW heulte zufrieden auf und beschleunigte beinahe ohne jeden Widerstand. Jessica lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und lächelte selig.

      »Guck mal, Jess. Was blinkt denn da?« Verwundert deutete Paula mit dem Zeigefinger in die Dunkelheit vor ihnen, tippte sogar von innen gegen die Windschutzscheibe und schaute dann zu Jessica hinüber.

      »Scheiße. Verdammter Mist. Ausgerechnet …!« Jessica trat auf die Bremse und reduzierte ihr Tempo auf ein angemessenes Maß. Die rot leuchtende Polizeikelle etwa 100 Meter vor ihr wies sie trotzdem an, in die Parkbucht einzubiegen und direkt hinter dem dort parkenden Streifenwagen, einem dunklen VW-Bus, anzuhalten.

      »Was wollen die denn von uns?«, fragte Paula vorwurfsvoll und starrte wütend auf das Auto der Polizisten, obwohl das nun wirklich nichts für Jessicas überhöhte Geschwindigkeit konnte.

      Jessica schaltete den Motor aus und ließ durch einen Knopfdruck die Scheibe auf der Fahrerseite hinunter. Kalte Nachtluft strömte in den warmen Innenraum und Paula schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.

      »Einen schönen guten Abend, junge Frau. Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?« Eine ältlich aussehende Polizistin mit einem kantigen Gesicht und tiefen Falten auf der Stirn blickte streng und unerbittlich in den Wagen, schnüffelte dann, verzog angewidert das Gesicht und legte ihre rechte Hand auf ihre Dienstwaffe, die in einem Halfter an ihrem Gürtel hing. »Steigen Sie bitte aus. Haben Sie etwas getrunken?«, fragte sie. Es klang allerdings nicht so, als würde sie eine Antwort erwarten. Es war mehr eine Feststellung. Sie trat einen Schritt zurück und Jessica stieg tief seufzend aus dem Wagen.

      »Nerve ich Sie?«, fragte diese Polizistin überheblich lächelnd, ohne ihre Hand von ihrer Dienstwaffe zu nehmen, und Jessica beschloss, sie nicht zu mögen. Eine wirklich unangenehme Person, die glaubte, sie sei etwas Besseres, nur weil sie eine Uniform trug. Solche Menschen waren Jessica zuwider.

      »Selbstverständlich nicht, Frau …?« Fragend sah Jessica zu der Polizistin hinüber, die sich jetzt erhobenen Hauptes vor ihr aufbaute.

      »Oberwachtmeisterin Schneible«, half sie ihrem Opfer auf die Sprünge und grinste dann wieder breit.

      »Oh Mann, entschuldigen Sie«, trällerte Jessica fröhlich. »Da hätte ich Sie doch beinahe falsch angeredet. Ich hatte vermutet, dass Beamte in Ihrem Alter und mit Ihrer Kompetenz bereits Hauptwachtmeister wären. Sie legen sicher großen Wert auf eine korrekte Anrede, Frau Schneible.« Hatte ihre Aussage bis dahin noch nicht Frau Oberwachtmeisterins Nerv getroffen, ließ nun das komplette Weglassen ihres Titels sie beinahe explodieren. Wäre es nicht so dunkel gewesen, dann, da war Jessica sich sicher, hätte sie in ein purpurfarbenes, wütend verzerrtes Polizistinnengesicht geblickt.

      »Haben Sie etwas getrunken?«, presste Frau Schneible zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor.

      »Zuallererst gebe ich Ihnen einmal meinen Führerschein. Sie haben vergessen, danach zu fragen«, belehrte Jessica die Beamtin und konnte nicht umhin, selbst breit zu lächeln, kramte in ihrer Handtasche und zog ihre Geldbörse heraus. »Und nein«, fügte sie hinzu, »ich habe nichts getrunken.«

      Sie reichte Frau Oberwachtmeisterin Schneible ihren Führerschein.

      »Jetzt belügen Sie mich aber.« Polizistin Schneible war sichtlich um Fassung bemüht. Ihre Stimme bebte leicht, doch sie strengte sich an, ruhig und überheblich zu klingen, und nahm Jessica den Führerschein ab. »Sie riechen bestialisch nach Alkohol. Sie sind voll wie eine Haubitze …«, verkündete sie triumphierend, leuchtete mit der Taschenlampe erst auf die Papiere in ihrer Hand und dann direkt in Jessicas Gesicht. »… Frau Grothe.«

      Jessica hob abwehrend die rechte Hand vor ihre Augen, um sich vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen, und wollte gerade etwas auf die unberechtigten Vorwürfe erwidern, als Paulas glockenhelle Stimme aus dem Innenraum ihres BMWs nach draußen wehte.

      »Liebe Frau Wachtmeisterin«, sang sie fröhlich, »meine gute Freundin Jessica riecht nur so komisch, weil sie sich ein komplett volles Bierglas über ihren Rock geschüttet hat.