Zurück im Zorn. Christoph Heiden

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Название Zurück im Zorn
Автор произведения Christoph Heiden
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839263600



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hoffnungsvolle Bis bald am Ende einer jeden Karte hatte sie rasch verzichtet. Vor fünf Jahren war Anna das letzte Mal in Gollwitz gewesen.

      Leider habe sie gerade zu tun, verkündete Helene auf der Mailbox, sie würde jedoch umgehend zurückrufen. Anna legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

      Sie tauschte ihre Wintersachen gegen eine Jogginghose und ein T-Shirt mit einem Aufdruck von »Buffy – Im Bann der Dämonen«, rollte die Wollsocken über ihre Hosenbeine und rutschte auf die Couch. Dort öffnete sie den Brief und strich anschließend das Papier glatt. Der Bogen hatte 15 vorgedruckte Zeilen, die Kindern zur Schreibhilfe dienten; unter der letzten Zeile grinste ein Schneemann mit Karottennase und Kohleaugen. Normalerweise schickten Kinder solche Briefe aus dem Ferienlager nach Hause, normalerweise strotzten solche Briefe vor tollen Erlebnissen und allerliebsten Grüßen. Dieser Brief war anders, zweifellos. Liebste Anna … dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran. Die Arbeit, ihre Kollegin und ein Haus voller Kinder hatten sie tagsüber vor eben diesen Zeilen beschützt; der wahre Horror, so wusste sie, begann erst in den eigenen vier Wänden.

      Sie las den Brief wieder und wieder und zerrte dabei einen losen Wollfaden aus ihrer Socke. Offenbar hatte irgendein Spinner Schadenfreude als willkommene Abwechslung zum Alltagstrott entdeckt. Es war kein Geheimnis, dass in Dörfern wie Gollwitz Langeweile und Überdruss herrschten. Ihr Bruder hatte hinlänglich bewiesen, welches Potenzial diese Eintönigkeit entfesseln konnte. Er war nicht nur in den örtlichen Pub eingebrochen, um irischen Whiskey zu stehlen; darüber hinaus hatte er das Denkmal der »Butterhexe« mit Hakenkreuzen und bunten Schwänzen verziert. Auch Lennart wäre imstande gewesen, einen derartigen Brief zu verfassen. Nein, nicht auch, korrigierte sie sich, sondern gerade Lennart.

      Als das Telefon klingelte, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Das Display zeigte unter einem gesichtslosen Kopf den Namen ihrer Tante. Sie legte das Handy auf die Couch und hoffte, es würde rasch verstummen. Durch die Wände krachten die üblichen Geräusche: das Poltern des Mieters über ihr, ein Knacken aus der Nachbarwohnung, als würden dort Holzscheite unter starker Hitze bersten; von irgendwoher das Miauen einer Katze oder vielleicht auch das Wimmern eines Mädchens. Eine endlose Minute später erlosch das Display, dann signalisierte ein Piepen eine SMS. Garantiert hatte Helene auf ihre Mailbox gesprochen.

      Statt sich die Nachricht anzuhören, rannte Anna in den Flur und öffnete den Schuhkarton, legte den Brief zu den vier anderen und schob den Karton zurück in die Schublade. Sie streifte sich einen Pullover, Schal und Stulpen über, schlüpfte in ihre Laufschuhe und verließ die Wohnung.

      Blinde Kuh

      Aus versteckten Boxen plärrte Irish Folk, wie er in jedem x-beliebigen Pub gespielt wurde: Akkordeon, Mandoline und Fidel, dazu eine Stimme, die an das Zermalmen von Kohle erinnerte. Im Kamin glomm das Holz, während zwei Kerle stumm, triefäugig und Guinness trinkend in die Glut starrten. Die Gäste an den vorderen Tischen sprachen weiter, als hätte sich die Eingangstür keinen Millimeter gerührt; vielleicht war es unter ihrer Würde, einen Neuankömmling wenigstens mit einem Nicken zu begrüßen. Willy stützte sich am Türrahmen ab und verharrte in lautlosem Protest.

      Die Aufmerksamkeit aus der hinteren Sitznische war ihm dagegen gewiss; dort im Halbdunkel saßen jene, die mit der Finsternis Geld verdienten: Besitzer einer Pension oder Wanderführer, Hobby-Ornithologen oder selbsternannte Spezialisten für Sonne, Mond und Sterne.

      Links am Tisch die Eheleute Kallabis, die ungefähr in Willys Alter waren. Lasse hatte sein Leben lang in der Putenmast gearbeitet, wo er seiner Frau begegnet war. Die Ammoniakdämpfe vom Vogelkot hatten Claudia offenbar das Hirn vergiftet; sie stierte Willy aus geröteten Augen an, den Rücken gekrümmt, das Doppelkinn zur Hälfte im Bierglas. Daneben hockten Eugen und Constanze Kramer, zwei Berliner, die hier ein Haus gekauft hatten und nun alles Erdenkliche taten, um sich in die Horde zu integrieren. Arschlecken deluxe. Den Großteil der Runde machten die Einheimischen aus. Die Jüngsten unter ihnen, Kevin Hübner und Danny Schmidt, hatte Willy aufwachsen sehen, die Älteren hatten mit ihm die Schulbank gedrückt; aus Leidensgenossen waren Nachbarn geworden, aus Nachbarn irgendwann Fremde.

      Er blieb an der Tür stehen und witterte das würzige Aroma, das über den Köpfen, Biergläsern und speckigen Tischen schwebte. Das Rauchverbot, das Friesack wegen der Touristen und ihrer neumodischen Ansichten durchgesetzt hatte, galt nicht für Johann Beck. Soweit Willy sich erinnern konnte, hatte der Alte nie auf seine Pfeife verzichten müssen, weder hier noch in den Ställen der Genossenschaft. Gleich einem Silberrücken hockte Beck inmitten der Horde, linkerhand sein Sohn, rechterhand seine zweite Frau, vor sich ein Guinness. Willy spürte, wie Beck Junior ihn taxierte.

      »Hey, altes Haus«, rief ihm der Wirt vom Tresen aus zu. Sein Dauergrinsen und das Geschirrtuch auf seinen Schultern sollten Lässigkeit vortäuschen, doch mit jeder weiteren Sekunde, die Willy unterm Türsturz ausharrte, krümmten sich Friesacks Mundwinkel tiefer. Garantiert hatte Erdbeermütze Angst, er würde ihm das Geschäft versauen. Die handzahmen Astronisten mochten keinen Stunk, sie verbrachten ihre Zeit lieber mit Explosionen, die Millionen Lichtjahre entfernt waren. Friesack kam hinter seinem Tresen hervor, wanzte sich an Willy heran und raunte:

      »Verzieh dich aus meinem Laden.«

      »Wie bitte?«, entgegnete Willy.

      »Du bist hier nicht willkommen.«

      »Das ist ’n freies Land. Ich kann hingehen, wo ich will.« Ein dummer Spruch aus noch dümmeren Filmen, jetzt fand Willy ihn allerdings originell. »Oder siehst du das anders?«

      »Schon mal was vom Hausrecht gehört?«

      »Oh, der Herr hat sich belesen.«

      »Los, mach ’nen Abgang.«

      »Ich will nur ’n Päckchen Zucker.« Er hielt seine Hand wie ein Bettler auf. »Für meine Pflaumen.«

      »Ist das ’ne Verarsche?«

      »Über Pflaumen würde ich niemals Späße machen.«

      Aus der hinteren Sitznische wurde eine Runde geordert, und der Wirt brüllte zurück, dass er sofort käme. Willy merkte, wie seine Abneigung gegen Friesack unter dem ursprünglichen Anlass seines Besuches ein tieferes Bedürfnis freilegte. Er winkelte die Ellbogen an, hakte die Daumen in die Westentaschen und sagte:

      »Entweder lässt du mich durch oder du erlebst gleich ’ne Supernova.«

      »Willst du mir wieder ’nen Stein ins Fenster werfen?«

      »Das hättest du wohl gern.«

      »Du warst damals schon neidisch.«

      »Hä, auf dich?«

      »Auf mich und meinen Pub.«

      »Für so ’n Loch wäre mir selbst ’ne Handvoll Kötteln zu schade.«

      »Wart nur ab«, drohte Friesack. »Die Quittung wirste noch kassieren.«

      »Erst mal will ich ’n Päckchen Zucker. Kapiert?«

      Von hinten dröhnte erneut die Bestellung, diesmal in strengerem Tonfall.

      »Bist du taub?«, fragte Willy. »Das klang nach ’nem Marschbefehl.«

      Mit sichtlich genervter Miene wandte sich Friesack um. Zwei Männern näherten sich der Tür. Sie und Friesack nickten einander zu, dann kroch der Wirt ohne ein weiteres Wort hinter den Tresen, wo er sich selbst einen Doppelten einschenkte.

      »Unser Hüter von Recht und Ordnung.« Robert Beck, Sohn vom alten Silberrücken, lächelte so breit, als hätte er einen alten Freund entdeckt. Er und Danny Schmidt trugen Cargohosen und Thermopullover, Beck Junior dazu eine mit Lammfell gefütterte Weste und ein Halstuch.

      »Ihr sollt bestimmt den Dreck rauskehren«, sagte Willy.

      »Warum so aggressiv?«, fragte Beck.

      »Ich will bloß ’n bisschen Zucker.«

      »Und ich möchte nur mit dir reden.«

      Robert Beck war Inhaber einer Tischlerei und