Zurück im Zorn. Christoph Heiden

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Название Zurück im Zorn
Автор произведения Christoph Heiden
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839263600



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kapiert«, entgegnete Anna härter als beabsichtigt.

      »Entschuldige, aber das ist krank. Echt krank.«

      »Ich weiß.«

      »Hat den dein Ex geschrieben?«

      »Wie kommst du ausgerechnet auf den?«

      »Nach dem, was du von ihm erzählt hast.«

      »Nein, das ist nicht Pauls Art.«

      Sonja blies den Rauch hinaus in die Nacht und streckte ihr gleichzeitig den Umschlag entgegen. »Haben den etwa unsere Pappenheimer fabriziert?«

      »Nein, hundertprozentig nicht.«

      »Und warum bist du dir so sicher?«

      »Auf dem Poststempel steht ’ne 14.«

      »Und das bedeutet?«

      »Die Zahl steht fürs Briefzentrum, in diesem Fall für Stahnsdorf.«

      »Noch nie gehört.«

      »Liegt draußen in Brandenburg.«

      »Aha, und kennst du da jemanden?«

      Anna stieß sich vom Schreibtisch ab, rollte zum Fenster und gierte nach der frischen Luft, die ihr die Beklemmung in der Brust lösen sollte. »In Stahnsdorf landet auch die Post aus Gollwitz.«

      »Gollwitz, dein Heimatdorf?«

      »Meine Heimat ist Berlin, okay?«

      »Du weißt, was ich meine.«

      Anna schwieg.

      »An deiner Stelle würde ich die Bullen rufen?« Sonja streifte die Asche am Fenstersims ab und wandte sich ins Büro. »Das ist quasi ’ne Morddrohung.«

      »Ich wette, das hat irgend so ’n Dorftrottel geschrieben.«

      »Das macht’s nicht besser.«

      »Solche Freaks muss man ignorieren, sonst stachelt man sie nur an.«

      »Das heißt ja nicht, dass man sich alles bieten lassen muss.«

      »Sonja, wenn sich irgendwer darauf einen runterholt, kann ich’s eh nicht verhindern.«

      »Und wenn du Anzeige gegen Unbekannt stellst?«

      »Ich schmeiß den Brief weg und die Sache ist erledigt.«

      Anna rang sich ein Grinsen ab und zupfte gleichzeitig den Umschlag aus Sonjas Hand, dann rollte sie mit dem Bürostuhl zurück an den Schreibtisch, fuhr den Laptop runter und warf sich ihren Mantel und ihren Rucksack über.

      Sie begaben sich auf die allabendliche Kontrollrunde: Sonja warf einen Blick in die Toiletten, Anna checkte den Tischtennisraum. Beim Öffnen der Tür schlug ihr die ganze Wucht pubertärer Ausdünstungen entgegen. Wäre es nach ihr gegangen, hätten die Jugendlichen zu jedem Schläger ein Duftbäumchen ausleihen müssen. Fichtenduft versus Schweiß, verursacht von Hormonen und dicken Kapuzenpullis. Sie prüfte die Fenster und fegte die Schalen der Sonnenblumenkerne zusammen, die man neuerdings überall im Haus fand.

      Auf dem Weg ins Erdgeschoss fragte Sonja beiläufig, ob sie ihre Familie schon angerufen habe.

      »Warum sollte ich?«

      »Hallo, der Brief!«

      »Ja, und?«

      »Würdest du nicht wissen wollen, wenn dich jemand bedroht?«

      »Ich will sie nicht in Panik versetzen«, rechtfertigte sich Anna. »Nicht wegen so einem Spinner.«

      Sie traten vor die Eingangstür und der Bewegungsmelder schaltete das Hoflicht an. Irgendwer hatte einen Zweig in einen Schneehaufen gesteckt und darauf eine leere Chipstüte gestülpt; der Wind entlockte ihr ein Knistern, als würde ein scheues Tier über totes, gefrorenes Laub schleichen. Anna tippte den Code für die Alarmanlage ein, da klingelte im zweiten Stock erneut das Telefon. Vielleicht der Anrufer von vorhin. Sonja schaute sie an, bis Anna demonstrativ mit den Schultern zuckte.

      »Ich würde es machen«, sagte ihre Kollegin.

      »Was? Noch mal reingehen?«

      »Nein, meine Familie informieren.«

      »Wir haben uns das letzte Mal vor Ewigkeiten gesehen.«

      »Du hast ja bloß Schiss, Anna.«

      »Was soll ich denen denn sagen: Hallo, meine Lieben. Ich hab einen Brief erhalten, in dem jemand ankündigt, euch abzufackeln?«

      »Ja, zum Beispiel«, meinte Sonja.

      »Das würde sie total verschrecken.«

      »Das tut die Wahrheit doch meistens, oder?«

      Liebende Walrosse

      Willy setzte seinen Astra rückwärts aus der Einfahrt und brachte ihn knapp vor dem Straßengraben zum Stehen. Das Haus, das er länger als sein halbes Leben mit Eva bewohnt hatte, lag außerhalb von Gollwitz. Eingerahmt von verschneiten Feldern war der Ziegelbau erbarmungslos der Witterung ausgeliefert; eine Steintreppe führte zu einer Flügeltür, deren blauer Anstrich sich bestenfalls erahnen ließ; von den Fensterläden hatten Wind und Regen die Farbe gespült. Das Haus schien sich langsam, aber sicher in der havelländischen Ebene aufzulösen. Willy machte das Radio an, drückte aufs Gas, und nach wenigen Sekunden verschwand das Hoflicht aus dem Rückspiegel.

      Er nahm den Feldweg, der von seinem Haus zur Gollwitzer Chaussee führte. Das Ende der 20-Uhr-Nachrichten signalisierte ihm, dass der Netto am Rathenower Stadtrand soeben geschlossen hatte. Egal, sagte sich Willy. Zucker gibt’s auch anderswo. Als im Radio »You see the trouble with me« von Barry White angekündigt wurde, drehte er die Lautstärke auf, doch statt den Song einfach abzuspielen, strapazierte der DJ Willys Geduld mit Hörergrüßen.

      »Wen interessieren denn Inge und Klaus?«, brüllte er. »Hau rein, die Nummer!«

      Eva hatte für das »Walross der Liebe« und seine kosmische Bassstimme zeitlebens geschwärmt: Zum Putzen hatte sie die alte Platte aufgelegt und war zu »Just the way you are« oder »Let the music play« durchs Haus geflattert, hatte zu »Your sweetness is my weekness« den leckersten Kuchen der Welt gebacken.

      »Dir ist nie der Zucker ausgegangen«, murmelte Willy und trommelte aufs Lenkrad, während der Astra durch Schnee und Dunkelheit pflügte.

      Er wusste um seine Trunkenheit, und er wusste, dass das Fass noch nicht überzulaufen drohte. Er griff aus dem Seitenfach eine Plastikflasche und klemmte sie zwischen seine Beine. Billiges Discounterbier, mit praktischem Schraubverschluss und 25 Cent Pfand pro Flasche. Er pustete den Schaum ab, kippte einen Schluck und leckte sich über die Lippen, dann ein zweiter Schluck und ein dritter, und je leerer die Flasche wurde, desto lauter stellte er das Radio.

      Welkes Gestrüpp und kahle Obstbäume schoben sich ins Fernlicht, blitzten auf und verschwanden wieder. Unter der Eisdecke gefror das Fallobst vom letzten Herbst, hier und dort durchsiebten dürre Gräser das Weiß. Willy brauchte das alles nicht zu sehen, denn die Region umschloss sein Herz wie ein Kranz feiner Venen und Arterien. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben, woanders zu sterben; das Doppelgrab auf dem hiesigen Friedhof war längst abbezahlt.

      Auf der Gollwitzer Chaussee drosselte er das Tempo und stierte konzentriert dem Fernlicht hinterher. Pass bloß auf, verdammt. Einen Astronisten über den Haufen zu fahren, würde ihm wohl einen Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern bescheren; da verstanden die Gollwitzer keinen Spaß.

      Vor zwei Jahren hatte man die Region 90 Kilometer westlich von Berlin zum ersten Sternenpark Deutschlands gekürt. Das Kerngebiet reichte vom nördlichen Zipfel Rathenows bis hinauf zur Gemeinde Gülpe. Die dünne Besiedlung und die Lichtarmut sorgten für einen Himmel, wie es ihn in Deutschland kein zweites Mal gab. Dass Menschen die Region wegen der rabenschwarzen Nächte aufsuchten, war bei den Gollwitzern zunächst auf Skepsis gestoßen; heute dagegen stapelten sich in den Pensionen nachtblaue Flyer, Stern- und Postkarten. Man hatte sogar einen Namen für die