Mörderjagd mit Elwetritsch. Helge Weichmann

Читать онлайн.
Название Mörderjagd mit Elwetritsch
Автор произведения Helge Weichmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839262900



Скачать книгу

trödelte, bis der Bürgermeister ein paar Schritte Vorsprung hatte. »Ganz ohne was gehen wir nicht, Manne«, antwortete er leise und ließ ein zerknittertes Stück Papier in seiner Hand erscheinen. »Das hier hat halb unter dem Toten gelegen, vielleicht ist’s aus seiner Tasche gerutscht. Ich hab den Fuß draufgestellt und beim Schuhbinden zugegriffen.«

      Der Zettel war per Hand beschrieben und in der Mitte zerrissen. »…inoa«, konnten die beiden Polizisten entziffern.

      »Inoa.« Manne sprach das Wort so vorsichtig aus, als könnte er damit einen Fluch heraufbeschwören. »Was soll das denn heißen?«

      Bleibier blieb stehen und warf einen Blick zurück zur Lichtung und zu den dunklen Bäumen, die dahinter standen wie eine stumme Armee. Schon wieder hatte er das Gefühl, verborgene Augen würden ihn beobachten.

      »Keine Ahnung, was das für ein Wort ist. Aber jemand hat dafür sterben müssen, also werden wir’s rauskriegen.«

      Seit seine Frau Thea ausgezogen war, herrschte in Bleibiers Küche nicht gerade kulinarische Kreativität. Er ging oft in die Palzstubb, die Weinschenke von Grumberg. Die Krawehl Ingeborg mochte zwar ein Ratschweib sein, aber kochen konnte sie, da gab es nichts zu meckern. Ihre Gebredelde waren Legende, die Lewwerknepp hatten Biss, die Würste und der Saumagen öffneten das Himmelreich. Zu Hause hielt Bleibier sich an die einfachen Sachen: eine Dose Wurst, ein paar Scheiben Brot, zwei Gurken, Senf und einen Schoppen, das galt im pfälzischen Verständnis als ausgewogenes Nachtmahl. Ebendiese Kombination balancierte er auf die Terrasse, wo sich die Sonne anschickte, ihre milden Abendstrahlen über den Haardtrand zu gießen. Der Himmel leuchtete so blau, dass man ein eigenes Wort dafür erfinden müsste, zur Ebene hin färbte er sich königlich violett. Die Luft konnte man trinken.

      Neben dem Broodworschtebrot klappte Bleibier sein Notebook auf. Es hatte zwar schon einige Jahre auf dem Buckel, doch im Vergleich zur IT-Ausstattung auf der Wache kam es fast aus der Weltraumforschung. Der dortige 486er verband sich über eine ISDN-Leitung mit dem Internet, deshalb bestanden Online-Recherchen in allererster Linie aus Ladebalken und Sanduhren. Zu Hause surfte Bleibier immerhin mit DSL – ein Umstand, der ursprünglich auf Susannes Nörgeln zurückging, für den er inzwischen aber dankbar war.

      Das merkwürdige halbe Wort ließ ihm keine Ruhe. …inoa. Er googelte. Eine Tönung von L’Oreal. Ein philippinischer Familienname. Ein kanadischer Rapper. Nicht gerade eine heiße Spur zum Toten im Pfälzerwald. Wie wohl der Anfang des Wortes auf der anderen Hälfte des zerrissenen Zettels lautete? Er versuchte es mit »???inoa«, aber Google verstand nicht, was er meinte. Beliebige Buchstabenkombinationen brachten genauso wenig, schließlich driftete Bleibier ab in die Tiefen des WWW. Müßig klickte er sich durch Fotos und Artikel, bis ihn eine unsichtbare Hand zur Homepage von Grumberg führte. Wie immer schloss er innerlich eine Wette ab, und wie immer gewann er sie: »Letzte Aktualisierung: 26. März 2016«, stand in der Fußzeile. An diesem Datum hatte sich seit nunmehr vier Jahren nichts geändert. So, wie die Zeit im Dorf stillstand, war sie auch im Internet eingefroren.

      Ein Grußwort vom Fuchselouis zierte die Seite, Bilder der Höfe und der Straßen fügten sich an. Bleibier gab sich bittersüßen Erinnerungen hin. Seine Kindheit, sein Vater mit dem struppigen Schnauzbart, seine Mutter in der Kittelschürze, der Geruch nach Dampfnudeln. Später seine eigene Familie, die Jahre, die sie hier gemeinsam verbracht hatten. Doch Thea war mit dem Herzen nie wirklich angekommen. Sie stammte aus Heidelberg, für sie fühlte es sich an, als hätte man einen Baum verpflanzt und die Wurzeln vergessen. Das Dorf nahm ihr die Luft zum Atmen. Das Kleinbürgerliche, der enge Kontakt der Menschen, die Alten, die auf den Bänken vor ihren Häusern saßen – was er liebte, engte sie ein. Sie vermisste die Stadt und den Trubel und die Anonymität, in die man, wenn man wollte, eintauchen konnte. Über die Jahre wurde aus dem Unwohlsein eine ausgewachsene Depression, der Bleibier nichts entgegenzusetzen hatte. Mit Trauer im Herzen, aber ohne Groll ließ er Thea ziehen. Inzwischen wohnte sie wieder in Heidelberg, hatte ihre Lebenslust zurückgewonnen und schrieb dann und wann eine Karte, auf der ihr alter Schalk durchblitzte und die Bleibier jedes Mal in wilde Wehmut stürzte.

      Als er aus der Vergangenheit auftauchte, war die Weinflasche ausgetrunken und die Sterne sprenkelten den dunklen Himmel.

      »Hat’s geschmeckt?« Die amüsierte, etwas kieksige Stimme ließ ihn mit leichter Verzögerung herumfahren. Seine Augen stellten scharf. Die Terrasse … der Garten mit der Colt-Seavers-Wanne … niemand da.

      »Hallo?«, fragte er, und weil ihm nichts Schlaueres einfiel, schob er gleich noch mal ein »Hallo!?« hinterher. Zwischen den Blumenkübeln raschelte etwas, plötzlich kam die Stimme von der anderen Seite. »Aber Senf auf Broodworscht, das ist nicht dein Ernst, oder?«

      Mit dem Wattegefühl im Kopf, das sich nach einem Liter Riesling unvermeidlich einstellte, fuhr Bleibier erneut herum. »Will mich jemand verarschen hier?«

      Nach wie vor war er allein. Er blinzelte und überlegte, was nun zu tun sei. Spontan kam ihm die Idee, die Polizei zu rufen, bis ihm einfiel, dass er sich dann ja selbst rufen müsste. Eben wollte er sich erheben, da traf ihn fast der Schlag. Vor ihm, in der Mitte der Terrasse, hockte der Pelzvogel.

      Wie ein Fisch auf dem Trockenen machte Bleibier den Mund auf und zu. Genau wie gestern rührte sich das Wesen nicht, es hielt den Kopf schräg und fixierte ihn. Im schwachen Licht, das von innen durch die Terrassentür fiel, sah er das farbige Pulsieren der Federn, die kleinen Geweihspitzen und den grotesk großen grünen Schnabel. Nach einigen Sekunden, die Bleibier wie Stunden vorkamen, öffnete sich der Schnabel. Die Stimme von eben erklang, kieksig, etwas knarrig und irgendwie fremd: »Aber ihr Menschen habt eh komische Angewohnheiten. Ich sag nur: Wein mit Sprudel mischen. Hallo? Geht’s noch?« Mit einem missbilligenden Schnaufen schüttelte das Geschöpf den Kopf.

      Bleibiers Gedanken wussten nicht, in welche Richtung sie laufen sollten, deshalb fiel seine Antwort eher unaufgeregt aus: »Na ja, im Sommer ist das schon okay so. Soll ja den Durst löschen und nicht gleich vollmachen.«

      Das Vogelwesen kniff die Stielaugen zusammen und bog den Schnabel nach unten. Offensichtlich konnte es ihn bewegen wie einen kleinen Rüssel.

      »Durst löschen. Mit Wasser. Was für ein Quatsch. Durst löscht man mit Wein, zumindest bei uns.«

      Dafür, dass sich in Bleibiers Kopf ein Karussell drehte, gestaltete sich das Gespräch einigermaßen normal, das musste er zugeben. Vorsichtig tastete er sich einen Schritt weiter: »Bei euch, soso. Wer seid ihr denn, oder, ich sag mal: Was bist du denn?«

      Das Geschöpf plusterte sich auf, spreizte die Flügel und sortierte mit seinem beweglichen Grünschnabel die Pelzfedern auf der Brust. Dann schaute es Bleibier listig an.

      »Hm, lass uns mal überlegen. Wir beide, wir sind mitten an der Weinstraße, direkt da hinten fängt der Pfälzerwald an. Jetzt schauen wir genauer hin: Ich habe Flügel, komische Federn, platte Füße und Löffelohren, hinten sitzt ein Puschelschwanz und oben ein kleines Geweih. Na, was glaubst du, was ich wohl sein könnte?«

      Mit einer Mischung aus Resignation und Fatalismus ließ Bleibier sich zurücksinken. Jetzt war eh alles egal, der Wahn hatte ihn gepackt. Er zuckte die Achseln.

      »Tja, ich tät sagen: ganz klar eine Elwetritsch.«

      Sein nächtlicher Besucher wackelte erfreut mit den Ohren.

      »Hui, jetzt aber! Beim Jauch wärst du damit eine Gewinnstufe höher. Und das ohne Joker!«

      In seinem rieslinggedämpften Zustand wunderte es Bleibier kein bisschen, dass eine Elwetritsch über Günther Jauch und »Wer wird Millionär« Bescheid wusste. Klar, warum auch nicht. Die bernsteinfarbenen Augen fixierten ihn, wieder spürte er das Kribbeln im Nacken wie auf der Lichtung. Er holte Luft.

      »Sag mal, kann es sein, dass du heute Nachmittag im Wald gewesen bist, irgendwo zwischen den Bäumen?«

      »Blitzmerker. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.«

      Sein Zeitlupenhirn brauchte etwas Anlauf, bis die nächste Frage kam.

      »Und, äh, warum? Was, äh, machst du jetzt hier? Also, hier bei mir?«