Mörderjagd mit Elwetritsch. Helge Weichmann

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Название Mörderjagd mit Elwetritsch
Автор произведения Helge Weichmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839262900



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gab bei dem VMG-Gehampel ein weiteres Detail, das er jemandem von auswärts nicht auf die Nase binden wollte: Die junge Frau in der Fabrik, Annalena Fuchs, war die Tochter des Grumberger Bürgermeisters. Sie stand voll und ganz hinter dem VMG-Projekt, was das politische Miteinander im Ort zu einem wahren Eiertanz werden ließ. Egal, für welche Seite Bleibier in seiner Eigenschaft als Polizist Partei ergriff – es gab stets jemanden, dem er damit auf die Füße trat.

      Eine Autohupe riss ihn aus seinen Gedanken. Vor dem Fabriktor hielt ein steinalter Kleinbus, eine eckige Toyota-Kiste. Der ehemals weiße Lack hatte sich ins Gelbliche verfärbt, auf den Seiten prangte der Schriftzug »Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Geowissenschaften«. Fünf junge Leute kletterten heraus, zusammengerollte Karten ragten aus ihren Rucksäcken, einer hielt einen GPS-Empfänger in der Hand. Aha, die Schützlinge von Wendelin Wagenburck.

      »Wie läuft’s denn bei Ihnen?«, wandte Bleibier sich an den Professor. »Was erforschen Sie eigentlich genau?«

      Der Schrat lächelte erfreut und zeigte schiefe Zähne. »Oh, gut, sehr gut läuft’s. Wir untersuchen, inwieweit die ehemals exzessive Holzwirtschaft im Pfälzerwald sichtbare Spuren im natur- und kulturräumlichen Kontext hinterlassen hat. Anthropogene Überprägung mit reziproker Beeinflussung.«

      Bleibier bedauerte seine Frage bereits. Er hätte wissen müssen, dass Wagenburck wie jeder Wissenschaftler sofort auf Fachgeschwurbel umschaltete, sobald man sich nach seiner Forschung erkundigte. Er nickte mit Scheininteresse, während der Professor von Woogflächen, Quellhorizonten und Meilerplätzen redete und die Studenten weitere Fachausdrücke einstreuten. Erst als eine Pause folgte, merkte der Kommissar, dass ihm sein Gegenüber wohl eine Frage gestellt hatte.

      »Äh, was bitte, ich … äh«, stotterte er.

      »Ich habe gefragt, ob Sie auch schon einmal in die alten Kirchenlisten geschaut haben. Die sind in Grumberg nämlich bis ins späte 17. Jahrhundert erhalten, durchaus selten.«

      »Mh, nein, das, äh, ist bis jetzt noch nie nötig gewesen.« Er merkte, wie flügellahm seine Ausrede klang. Ein Euphemismus für »Ich habe keine Ahnung, was an alten Kirchenlisten so außergewöhnlich sein soll«.

      »Für uns sehr interessant«, erklärte Wagenburck und stieg in den Kleinbus. »Denn in den alten Registern sind oft Besitzverhältnisse und Ortsangaben verzeichnet. Pfarrer Münch hat uns erlaubt, heute Nachmittag die Kirchenbücher einzusehen, und wer weiß, vielleicht finden wir dort weitere Hinweise zu unserem Forschungsgegenstand, dem historischen Holzschlag.« Pathos erfüllte seine Stimme, als würde er vom Verbleib des Heiligen Grals reden. Bleibier nickte unbestimmt und schaute zu, wie die Schratgruppe davonfuhr. Ihn plagten weiß Gott andere Probleme als Kirchenbücher und der historische Holzschlag.

      Die aufgeheizte Atmosphäre hatte sich etwas beruhigt, einige der Grumberger gingen davon. Das sollte Bleibier nur recht sein, er machte sich auf zur Polizeiwache. Auf dem Weg durchs Dorf grüßte er hier und dort, die allermeisten Gesichter kannte er, Fremde gab es hier oben selten.

      Das lag daran, dass Grumberg kein fachwerkgesäumtes Vorzeigeörtchen war wie Rhodt, Maikammer oder Deidesheim. Sicher, auch hier standen alte Häuser, schmucke Höfe und eine Kirche, die die Last der Jahrhunderte zusammengestaucht hatte wie einen uralten Mann. Doch die Grumberger blieben lieber unter sich, es gab keine Pension und kein Hotel, nur die Krawehlin vermietete einige Zimmer über ihrer Wirtschaft. Momentan hatten die Studenten dort ihre Unterkunft. Bleibier mochte diese kleine Welt. Für ihn war sie die Heimat, hier war er aufgewachsen, am Waldrand zwischen Weyher und Burrweiler. Der Gang durchs Dorf gab ihm jedes Mal ein wohlig warmes Gefühl in der Herzgegend. Seine Tochter Susanne nannte den Ort »Grumbeer«, sie hatte es kaum erwarten können wegzukommen. Inzwischen lebte sie in Mannheim, hatte einen guten Job bei den Reiss-Engelhorn-Museen und wurde nicht müde, ihren Papa zum Wegzug aus dem »Waldkaff mit Winzerzombies« zu bewegen. »Mach doch was aus deinem Leben, Babba«, versuchte sie es immer wieder, »es gibt doch noch mehr als den Haardtrand und Wingert und die immergleichen Gesichter.« Was aber, wenn er gar nichts anderes wollte als den Haardt­rand und Wingert und die immergleichen Gesichter? Trotzdem freute er sich jedes Mal, wenn Susi zu Besuch kam mit Geschichten und Handyfotos aus der großen Stadt, von denen Bleibier schwindelig wurde.

      Er erreichte die Wache. Schon auf dem Trottoir hörte er eine keifende Frauenstimme. Das klang nach der Bickel Elfriede, die mit ebendieser Stimme seit fast vierzig Jahren die Grundschüler von Grumberg beschallte. Elfi war Dauergast in der Polizeistube, ständig gab es etwas, was sie unbedingt zur Anzeige bringen musste.

      »Unn alle leer newedroo! Wonnichsdirsaach, leer newedroo!« Ihre Stimme verursachte bei Bleibier einen Schoppenreflex, das sägende Jammern ließ sich am besten mit einer Rieslingschorle ertragen. Das kam aber nicht infrage, im Dienst trank er nicht. Oder zumindest selten.

      Der Kommissar betrat das, was offiziell »Polizeiwache 1« hieß. Nicht, dass es eine Wache 2 oder gar 3 gegeben hätte. Nein, die Wache, ihre Einrichtung und sogar die beiden Beamten waren einmalig in der Gegend, keines der anderen Dörfer besaß eine eigene Dienststelle. Und auch die Grumberger Wache wäre nach dem Willen der Bezirksdirektion Neustadt schon vor Jahren aufgelöst worden. Doch das ging nicht, und hinter dieser Tatsache steckte eine interessante Geschichte.

      »Gmoje, Elfi. Was issn los?«, begrüßte Bleibier die ältliche Dame mit zementierter Frisur, die am Schreibtisch seines Kollegen Manfred Blümlein stand.

      »Achgottachgott, Maazl, do bischt jo! En Diebstahl vor meiner Deer, mit Sachbeschädigung unn mit Mundraub!«

      Bleibier hob eine Augenbraue. »Mundraub.«

      »Mund…raub«, murmelte Manne und tippte das Wort ein. Er saß am Rechner, dem einzigen in der Wache, und suchte mit zwei Zeigefingern Buchstabe für Buchstabe auf der Tastatur.

      »Ajoh, wonn ich’s doch saach! Vier Kischde Woi, direkt vor meiner Deer!«

      Während Bleibier seine Jacke auszog, hörte er sich die Geschichte der Bickel Elfi an. Winzer Ansgar hatte ihr gestern Abend vier Kartons Wein vor die Tür gestellt, weil er spät vom Wingert gekommen war und nicht mehr schellen wollte. Heute früh waren die Pappkisten durcheinandergewürfelt, die Flaschen lagen daneben, allesamt leer.

      »Vierezwonsich Flasche Woi, alle ausgedrunge! Riesling, Weißburgunder, Dornfelder unn St. Laurent«, klagte Elfriede.

      »Lau…rent.« Manne zog die Silben in die Länge, bis er die passenden Buchstaben gefunden hatte.

      Die Studenten!, war Bleibiers erster Gedanke. Er verwarf ihn augenblicklich. Die Geografentruppe um Professor Wagenburck machte nicht den Eindruck, als würde sie nachts durch den Ort marodieren und sich an fremdem Alkohol vergreifen.

      »Aufgerissen, die Kartons?«

      »Ewe net!« Elfi machte Augen, als würde sie von einem Weinwunder sprechen. »Uffgschnidde, ganz sorgfältich. Abber net owwe, sondern an de Seite. E richtiches Derle noigschnidde, wie mim Lineal. In jeden Kaddong!«

      Manne tippte die letzten Worte, die Zungenspitze im Mundwinkel. Mit zusammengekniffenen Augen überprüfte der Polizeimeister sein Protokoll auf dem 15-Zoll-Röhrenmonitor, der wie ein grauer Felsbrocken auf dem Schreibtisch thronte. Dann legte er schwarzes Durchschlagpapier zwischen zwei leere Blätter und schob alles sorgfältig in den Tintenstrahldrucker.

      Bleibier schloss die Augen. Es war unmöglich, Manne auch nur das Basiswissen zum Thema IT beizubringen. Dass ein Tintenstrahldrucker keine Durchschläge machen konnte wie früher die Schreibmaschine – hoffnungslos. Dass man einen Computer herunterfuhr und nicht einfach den Stecker zog – vergebliche Liebesmüh. Unterordner, Formatvorlagen, rechte Maustaste – böhmische Dörfer. Manne hatte anfänglich sogar E-Mails ausgedruckt, die Antworten handschriftlich daruntergeschrieben und alles in einem frankierten Kuvert an den Absender zurückgeschickt. Inzwischen hatte Bleibier ihm beigebracht, den Antworten-Button zu nutzen, doch alle übrigen Finessen beim »Mehlverkehr« blieben ein Buch mit sieben Siegeln für den stämmigen Polizeimeister.

      »So, guggemol, Elfi, do unnerschreibscht jetzt.« Manne hatte eine zweite Durchschlagpapier-Kombi ausgedruckt, nahm das obere Blatt und legte es Elfriede vor.