Mühlviertler Blut. Eva Reichl

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Название Mühlviertler Blut
Автор произведения Eva Reichl
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839256565



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man noch ungestüm und wild, und das war auch gut so. Er hingegen war 59 und hatte die Sturm-und-Drang-Zeit längst hinter sich. »Und so schnell fängt eine Leiche nun auch wieder nicht zu verwesen an.«

      Recht viel hatte der Dienststellenleiter Stern wegen des provinziellen Mordes nicht gesagt, außer, dass die Spurensicherung bereits zum Tatort unterwegs sei und er sich sputen müsse. Natürlich kannte auch der Dienststellenleiter Sterns Fahrweise, aber der eigentliche Grund, warum er ihn gedrängt hatte, war der hiesige Bestatter, der die Leiche so schnell wie möglich vor den Augen der Neugierigen verschwinden lassen wollte. Irgendetwas von mysteriös und diabolisch hatte er noch gemeint, dann aber gesagt, Stern solle sich am besten selber ein Bild machen.

      In Freistadt fuhren sie von der S10 ab und nahmen die Böhmerwald Straße Richtung Sandl. Nach einer Dreiviertelstunde verließen sie die selbige in Schönberg nahe der Grenze zu Niederösterreich und bogen einem Schild folgend auf eine schmale Seitenstraße ab. »Liebenau, 9 Kilometer«, stand auf dem Wegweiser. Die Harrachstaler Bezirksstraße führte die Inspektoren durchs hügelige Mühlviertel. Sattgrün und sanft breiteten sich Wiesen, Felder und jede Menge Wald neben der Straße aus. Stern war von dem Anblick fasziniert, und seine Laune besserte sich von Kilometer zu Kilometer, den sie zurücklegten. Auch wenn er Linz mit allem, was dazugehörte, liebte, die Linzer Landstraße mit ihren unzähligen Geschäften, die Altstadt und ihre Lokalitäten, so wirkte der Anblick der hügeligen Landschaft auf eine bestimmte Art befreiend auf ihn.

      »Kaum zu glauben, dass es bei uns so schön ist und alle immer nur im Süden Urlaub machen wollen«, kam auch Grünbrecht zu dem gleichen Ergebnis.

      »Ich mach keinen Urlaub im Süden«, erwiderte Stern.

      »Sie machen überhaupt keinen Urlaub, Chef. Weder im Süden noch im Norden und schon gar nicht im Westen oder im Osten.«

      »Ich hab bald nur noch Urlaub, Grünbrecht.«

      »Das nennt man Ruhestand, Chef.«

      »Ist doch irgendwie dasselbe.«

      »Spüre ich da etwa so etwas Ähnliches wie eine vorzeitige Altersdepression?«, fragte die Gruppeninspektorin.

      Stern verdrehte die Augen. »Altersdepression? Wo haben Sie das denn her?«

      »Ich meine ja nur«, verteidigte sich Grünbrecht, da sie keinen fundierten Beweis für ihre Behauptung vorweisen konnte. Aber gelesen hatte sie mal etwas darüber.

      Stern, dem das Gespräch über seine Altersdepression unangenehm war – ob er nun eine hatte oder nicht –, sah endlich ein Ortsschild in Sichtweite rücken. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um lesen zu können, was darauf geschrieben stand. Das war auch so eine Sache. Mit zunehmendem Alter wurde seine Sehkraft schwächer. In die Ferne und in der Nähe. Er würde sich eine Brille zulegen müssen. Wahrscheinlich, wenn er im Ruhestand war. Auf gar keinen Fall früher.

      »Wir sind da«, offenbarte Grünbrecht ihrem Vorgesetzten. Jetzt war klar, was auf dem Schild stand, also brauchte er gar keine Brille.

      »Liebenau«, brummte er zur Bestätigung. Seiner und Grünbrechts.

      Rechts am Ortsbeginn stand ein Dreiseithof, der die Ankömmlinge willkommen zu heißen schien. Gerade wurden Rinder auf einen Viehtransporter verladen, und Stern bekam sofort Appetit auf einen saftigen Rinderbraten samt Kartoffeln und Semmelknödel. So ein deftiges Mahl wäre für ihn eine kleine Entschädigung für die Reise hierher ins hügelige Nirgendwo. Es war ja längst Nachmittag, und Stern hatte seit dem Frühstück nur eine Leberkässemmel gegessen. Wie es aussah, würde es aber noch eine Weile dauern, bis er etwas zwischen die Zähne bekam, denn da war ja noch die Leiche. Die stand zwischen ihm und einer deftigen Mahlzeit. Und Grünbrecht, die, ihrer Figur nach zu urteilen, keine Zeit mit Essen vergeudete. Wahrscheinlich aß sie pro Tag nicht mehr als ein paar Salatblätter und eine Tomate.

      Stern kramte in der Mittelkonsole nach einer Packung Pfefferminzbonbons und sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Katze von links aus der Wiese gelaufen kam, die Straße querte und unter dem Wagen verschwand. Erschrocken blickte er in den Rückspiegel.

      »Hab ich sie erwischt?«

      »Nein«, antwortete Grünbrecht sichtlich gelangweilt. »Dafür fahren Sie nicht schnell genug. Ich hab gesehen, wie die Katze auf der rechten Seite in die Wiese gesprungen ist und sich dort gemütlich ins Gras gelegt hat.«

      Erleichtert atmete Stern auf. Nach altem Volksglauben brachte es Unglück, eine schwarze Katze zu überfahren, und auch wenn Stern nicht abergläubisch war, wollte er das Schicksal nicht herausfordern. Er drosselte die Geschwindigkeit auf Tempo 30 und verzichtete auf Blaulicht und Folgetonhorn. Das Opfer war ohnehin längst tot, der Leichenfund lag mehrere Stunden zurück. Da war keine Eile mehr geboten. Leichen liefen nicht weg.

      Mit der linken Hand öffnete er den Bonbonbehälter und steckte sich drei der kleinen, weißen Dinger in den Mund. Dann hielt er die Packung Grünbrecht hin.

      »Wollen Sie auch?«

      »Nein, danke«, lehnte die Gruppeninspektorin ab.

      Liebenau erinnerte Stern an eine Geisterstadt. Niemand überquerte die Straße, keiner putzte halsbrecherisch die Fenster, und es fehlten die Kinder, die Bälle über die Fahrbahn schossen, um anschließend anstatt ihres eigenen Lebens jenes des Balls vor dem heranrasenden Wagen zu retten. Der Ort war wie leergefegt. Kein gutes Zeichen, dachte Stern. Die schwarze Katze fiel ihm wieder ein.

      »Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte nun auch Grünbrecht.

      »Ich bin sicher«, brummte Stern, wenngleich er einen Anruf im Landeskriminalamt für einen Augenblick in Erwägung zog. Doch als sie den Ortsplatz von Liebenau erreichten, wusste er, warum sie zuvor niemanden gesehen hatten. Alles, was gehen oder sich auf andere Weise fortbewegen konnte, hatte sich vor der spätbarocken Kirche versammelt. Das Ganze hätte eine Erntedankprozession sein können, oder eine große Hochzeit, wie sie am Land üblich war und zu der man Gott und die Welt einlud. Dennoch wusste Stern, dass das Erscheinen der Menge und das Belagern des Platzes vorm und der Zugänge zum Gotteshaus einen ganz anderen Grund hatten. Einen weitaus weniger fröhlichen. Hinter einer Menschentraube erspähte er den Kleinbus der Spurensicherung und fragte sich, ob der Gerichtsmediziner auch schon da war? Webers Wagen war aber nirgendwo zu sehen, kein Wunder, bei dem hier stattfindenden Volksfest.

      »Halleluja! Was ist denn hier los?«, stieß Grünbrecht aus.

      »Nichts zieht die Menschen mehr an als ein Todesopfer.« Es war Stern anzusehen, was er davon hielt.

      Im Schritttempo ließ er den Audi durch die Menge rollen. Die wich nur ungern zur Seite und tat ihren Unmut sogleich lautstark kund. Schließlich könnte man etwas verpassen, war man sich einig, während sich dieser Wichtigtuer mit Linzer Autonummer ganz nach vorne auf den besten Platz schob. Einer der Schaulustigen hieb sogar mit der Faust auf die Motorhaube von Sterns Wagen, was diesen das Fenster herunterlassen und ein deftiges Schimpfwort abfeuern ließ. Das wiederum brachte die Menge zum Brodeln. Jener Mann, der den tätlichen Angriff auf Sterns Wagen vollzogen hatte, griff durch das geöffnete Fenster und packte Stern am Hemd. Der zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Mann direkt vor die Nase.

      »Landeskriminalamt Oberösterreich, Chefinspektor Oskar Stern«, sagte er ruhig, weil er die Stimmung nicht noch weiter anheizen wollte.

      »Es … es tut mir leid«, stotterte der Mann und machte sofort einen Rückzieher. Die Menge teilte sich wie eine mit der Axt gespaltene Melone und ließ Stern und Grünbrecht bis zum Absperrband vor der Kirche vorfahren. Dort stellte Stern den Motor ab. Ein Polizist, der wie eine Bulldogge vor dem Kirchenportal diese vor Schaulustigen gerade noch zu verteidigen versucht hatte, kam schwitzend auf sie zu gerannt.

      »He! Da können S’ aber nicht stehen bleiben!«, rief er.

      Grünbrecht reckte den Kopf aus dem Fenster und fragte: »Sehen Sie eine andere Parkmöglichkeit?« Dabei wies sie auf die Menschen, die den Platz vor der Kirche bevölkerten wie bei einem Open-Air-Konzert und nach vorne drängten, als gäbe es in dem Gotteshaus den Messwein gratis. Ungeachtet des Protestes des ländlichen