Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

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Название Der Schreckenswald des Hoia Baciu
Автор произведения Marie Kastner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967525243



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und abenteuerliche Schlussfolgerungen von Einzelnen werden mit hinein gewoben, auch wenn sie mit der eigentlichen Story kaum etwas zu tun haben.

      Man könnte fast glauben, dass mit jedem Weitergeben ein Stückchen mehr Wahrheit darin enthalten sei, dabei ist eher das Gegenteil der Fall. Speziell das nördliche Rumänien mit seinen schroffen Hügeln, dichten Wäldern und Vampirgeschichten ist von jeher ein Land, in dem solche Legenden nicht nur die Zeiten unbeschadet überdauern, sondern in den Gehirnen quicklebendig bleiben und immer farbiger ausgeschmückt werden. Aus einer Legende kann auf diese Weise Überzeugung, wenn nicht sogar Gewissheit werden.

      So geschah es natürlich auch im Falle der ermordeten Bauernschar. Bereits kurz nach diesem furchtbaren Ereignis berichteten nahe Anwohner des Baciu-Waldes von einem unheimlichen Heulen, das vorwiegend des Nachts auftrat. Andere wollten ein diffuses Leuchten wahrgenommen haben. Es strahle zwischen den Bäumen hervor, intensiviere sich und wechsle mehrmals die Farbe von Weiß zu Grün und wieder zurück, wurde erzählt.

      Außerdem schworen die Leute Stein und Bein, dass in besagtem Waldstück häufiger Nebel auftrete als anderswo, und dass er undurchdringlicher und dunkler ausfalle. Eine logische Erklärung hatte für diese seltsame Naturerscheinung niemand parat.

      In Popeşti wagte kein Einwohner, nach Beginn der Abenddämmerung das Haus zu verlassen. Mehrere Frauen behaupteten hysterisch, mitunter eine gebeugte, durchscheinende Gestalt um die Häuser schleichen zu sehen. Sie bewege ihre Beine nicht, schwebe einfach zehn Zentimeter über dem unebenen Boden. Der Weg dieser Gestalt sei immer der Gleiche: die schnurgerade Dorfstraße entlang, dann einmal um jedes Grundstück herum – und zum Schluss verschwinde der Spuk unversehens hinter der Kirche. Danach sei stets für mehrere Wochen Ruhe.

      Zuerst hatte der Gemeindepfarrer in der sonntäglichen Messe wütend gegen diesen gotteslästerlichen Aberglauben gewettert – bis er selbst Zeuge einer solchen Heimsuchung geworden war. Seither hatte man sämtliche Fenster des Dorfes mit blickdichten Vorhängen ausgestattet, damit der mutmaßliche Wiedergänger keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bekam. Einige befürchteten, dass der ermordete Bauernsohn Andraş sich ansonsten an der Bevölkerung des Dorfes rächen könnte – weil man ihm in der Stunde seiner höchsten Not nicht zu Hilfe geeilt war. Die Menschen in Popeşti wähnten sich deswegen kollektiv in einer Art Erbsünde gefangen und gaben diese schwere Last an ihre jeweiligen Nachkommen weiter.

      Im Jahr 1954 hielten sich immer noch Reste hiervon im Unterbewusstsein der ortsansässigen Leute, auch wenn Angst und Aberglaube nicht mehr ganz so fest in ihrem Alltag verwurzelt waren. Selbst im höchst provinziellen Popeşti hielt die Moderne allmählich Einzug, nur eben langsamer und inkomplett. Mittlerweile wurden allerdings andere, völlig neuartige Ereignisse mit der alten Geschichte verknüpft. Und wieder schienen sich sämtliche Puzzleteile bestens zusammenzufügen …

      *

      Sobald an irgendeinem Ort etwas scheinbar Unerklärliches geschehen ist, neigen die Menschen dazu, diesen aus gebührendem Abstand mit Argusaugen zu beobachten, und zwar weltweit und unabhängig vom Kulturkreis. Jeder neuerliche Vorfall, so unbedeutend er auch sein mag, wird entsprechend interpretiert – bis er eben stimmig ins Bild passt.

      Die Bevölkerung Nordrumäniens bildete da keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Während jedoch in vergangenen Jahrhunderten hauptsächlich Augenzeugenberichte von grünen Geisteraugen, nächtlichem Frauenund Kinderlachen sowie merkwürdigen Lichtphänomenen die Runde gemacht hatten, ging es jetzt zunehmend um seltsame Wolkenformationen, silberglänzende, fliegende Gegenstände und mutmaßlich böswillige Aktivitäten von Fremden im Baciu-Wald.

      Wer oder was diese ominösen Fremden sein sollten, beziehungsweise, was sie dort überhaupt wollten, wusste indes niemand zu deuten. Es kursierten hierüber zwar zahllose Gerüchte, doch tragfähige Beweise fanden sich keine.

      Die einzigen Spuren, die in unregelmäßigen Zeitabständen im Waldstück des Teufels gesichtet wurden, waren partiell verkohlte Äste. Allerdings wagten sich meist bloß nichtsahnende Ortsunkundige hinein, was klammheimliche Aktivitäten von ›Fremden‹ sicher problemlos ermöglicht hätte.

      An einem wolkenverhangenen, kalten Novemberabend versorgten Dănuţa und Mihai Stanciu gerade ihre Tiere im dem Wohnhaus gegenüber liegenden Ziegenstall, als durch die breiten Ritzen des grob zusammen gezimmerten Bretterverschlags plötzlich grelle Lichtstrahlen ins Innere drangen. Sie schienen irisierend über Boden und Wände zu tanzen.

      Beunruhigt sah Mihai hoch, stutzte. Er stieß seine dicke Ehefrau grob in die Seite. Diese beugte sich soeben über die Raufe und hatte daher noch nichts bemerkt. Ihre Leibesfülle ließ jegliche Bewegung zu einem Kraftakt geraten. Mühselig richtete sie sich auf, ächzte und stöhnte dabei.

      »Schau mal her! Wo mag dieses außergewöhnlich helle Strahlen bloß herkommen?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und stellte langsam die Heugabel in die Ecke zurück, jedoch ohne hierbei das mysteriöse Scheinen aus dem Blick zu lassen. Mit zusammen gekniffenen Augen verfolgte er, wie sich die langen Finger aus Licht ruckartig durch den Stall tasteten.

      Dănuţa streckte den Rücken, warf ihren dicken Zopf über die Schulter zurück und kratzte sich am Hinterkopf.

      »Was weiß ich? Der Mond vielleicht? Oder es geht jemand mit einer dieser neumodischen Laternen vorbei, will uns drüben im Wohnhaus besuchen?«

      »Was bist du doch für ein dämliches, einfältiges Weibsstück«, schimpfte Mihai abfällig. »Der Mond, pah … man sieht doch auf den ersten Blick, dass sich die Lichtquelle da draußen bewegen muss. Der Einstrahlwinkel verändert sich stetig, sieh halt gefälligst genauer hin! Und würde bloß jemand auf unserem Grund und Boden herumgehen, hätte er mitsamt seiner Laterne schon längst den Stall passiert.«

      »Wenn du meinst, Meister Oberschlau«, brummte die Rumänin beleidigt. »Dann geh am besten und finde es heraus, bevor du mir Vorträge hältst. Ich mache derweil hier alles fertig.«

      Um die Ehe der Stancius stand es schon seit einigen Jahren nicht mehr zum Besten. Dănuţa genoss daher jeden Augenblick, in dem sie sich nicht mit ihrem grantigen, besserwisserischen Gatten befassen musste. Für einen Augenblick beschlich sie der sehnliche Wunschgedanke, etwas Böses möge für das unheimliche Strahlen verantwortlich sein und sie für immer von diesem respektlosen Blödmann befreien.

      Zärtlich strich die Frau über den Kopf eines munteren Zickleins, das sie besonders gerne hatte. Das Tier hob erfreut den Kopf, ließ sich zwischen den Hörnchen kraulen.

      »Du bist mein kleiner Liebling, nicht wahr?«, flüsterte die korpulente Mittvierzigerin. Sie hatte nach einer dramatischen Fehlgeburt vor mehr als zwanzig Jahren keine Kinder mehr bekommen können, was sie unendlich bedauerte. Wahrscheinlich hatte diese traurige Tatsache maßgeblich dazu beigetragen, dass der damals total untröstliche Mihail sich emotional von ihr entfernte, bis von der Liebe kaum noch etwas übrig war. Seither stürzte Dănuţa sich ersatzweise auf jegliches kleine Wesen, um es mit ihren Gefühlen zu überschütten – egal ob Mensch oder Tier.

      Draußen wurde es plötzlich stürmisch. Auffrischender Wind heulte mit schauerlichen Tönen um den Stall, pfiff unangenehm kühl durch die Ritzen und wirbelte feinen Staub auf. Die Partikel schwebten wie Fischschwärme in den Lichtstrahlen, die den Verschlag noch immer diffus erhellten. Dănuţa musste niesen, zog ihr selbstgestricktes Schultertuch enger um den Leib. Mihail war nun schon seit mehreren Minuten weg, ihr wurde nun doch ein wenig mulmig. Ob sie nachsehen gehen sollte?

      Mit zitternden Händen drückte die Frau gegen die Lattentür, bis die Scharniere quietschten. Der Wind entriss ihr die Tür, so dass sie krachend außen gegen den Verschlag knallte. Erschrocken steckte sie zunächst nur den Kopf nach draußen, drehte ihn nach links und rechts. Das grelle Licht blendete ihre Augen so sehr, dass man lediglich undefinierte Formen erkennen konnte; Schatten, die mit dem sich verändernden Einstrahlwinkel chaotisch durch die Landschaft zu wandern schienen.

      »Mihai?« Ihr Ruf ging im Tosen des Sturmes unter. Sie wagte sich nun ganz aus dem Bretterverschlag, tastete sich vorsichtig um die Ecke. Was sie dort zu sehen bekam, ließ ihr fast das Blut in den pochenden Adern gefrieren. Fassungslos stand sie auf der Wiese,