Abend im Paradies. Lucia Berlin

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Название Abend im Paradies
Автор произведения Lucia Berlin
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311700807



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heißt dieser Baum Silberakazie oder Akazie, aber in Chile heißt er Aromo. Das Wort ist so weich wie die herabgefallenen gelben Blüten, die die Höfe bedeckten. In der letzten Schulstunde: Die Mädchen der vierten Klasse waren um diese Uhrzeit verträumt, unaufmerksam, die weißen Schürzen über den Schuluniformen waren angeschmutzt und zerknittert. Die Mädchen füllten ihre Federhalter aus den Tintenfässern, die auf jedem Tisch standen, und die Federspitzen machten ratschende, verschlafene Kratzgeräusche in den Schreibheften. Die regennassen Zweige des gelben Aromo verdoppelten das Geräusch an den Fensterscheiben.

      Señora Fuenzalida sprach eintönig. Die Schüler nannten sie »Fiat«. Sie sah aus wie ein Auto. Klein, gedrungen, fast schwarz, mit verspiegelter Scheinwerfersonnenbrille. Wo hatte sie diese Sonnenbrille gekauft, 1949 in Santiago? Amerikanische Brillen, Nylonstrümpfe und Zippo-Feuerzeuge waren damals Luxusartikel.

      Auch ohne Brille hätte sie alles gesehen. Sie hörte Laura in der letzten Reihe, hinter Quena und Conchi. Das leiseste Rascheln der Seiten, die mit einem Federmesser zerschnitten wurden, Seiten, die Laura schon am Abend zuvor hätte auseinanderschneiden und lesen sollen. Die Lehrerin nannte Laura »Suspiros«, weil sich ihr Seitenzerschneiden wie Seufzen anhörte.

       »¡Suspiros!«

      »Mande, señora.« Laura stand in Habachtstellung, hielt die Hände vor ihrer fleckigen Schürze umklammert.

      »Wer sagte ›Lloveré cuando se me antoje‹

      Laura lächelte. Sie hatte es gerade gesehen. Ich regne, wann immer ich möchte.

      »Du hast es nicht gelesen!«

      »Doch. Es war der Verrückte, in der Irrenanstalt.«

      »Siéntese.« Señora Fuenzalida nickte.

      Endlich klingelte es. Die Schülerinnen standen neben ihren Tischen, bis Señora Fuenzalida den Raum verlassen hatte, dann sammelten sie ihre Bücher ein und gingen hinaus auf den Flur. Sie hängten ihre Schürzen in die Spinde, knöpften sich saubere weiße Kragen und Manschetten um. Knöpften ihre grauen Handschuhe zu, setzten breitkrempige Hüte mit großen Schleifen auf. Schultaschen voller Hausaufgaben, obwohl vier freie Tage vor ihnen lagen.

      Laura ging mit Quena und Conchi die Las Lilas Straße in Richtung Hernando de Aguirre hinunter. Der Himmel hatte aufgeklart; die Sonne ging korallenrosa hinter den gewaltigen schneebedeckten Anden unter. Beim Laufen zertraten sie Aromoblüten, und der Duft hüllte sie ein. Die gelben Blüten, die den Gehweg bedeckten, dämpften ihre Schritte.

      Man hätte Laura kaum für eine Amerikanerin gehalten. Als Tochter eines Bergbauingenieurs hatte sie die Fähigkeit, sich anzupassen, eine Fähigkeit, über die gewöhnlich Soldatenkinder und Kinder von Diplomaten verfügen. Sie lernen schnell, nicht nur Sprache und Jargon, sondern wie es so läuft, wen man kennen muss. Das Problem für diese Kinder besteht nicht darin, dass sie einsam sind oder immer wieder neu, sondern dass sie sich so gut und schnell anpassen.

      An der Ecke der El Bosque und der Las Lilas Straße blieben die Mädchen stehen und besprachen ihre Pläne für das lange Wochenende. Das französische Olympiateam verbrachte den Sommer im chilenischen Trainingslager. Quena würde von Emile Allais persönlich Unterricht bekommen. Die ganze Woche hatte es in den Bergen geschneit, aber schau, jetzt ist es klar. Der Himmel war fast dunkel. Zwei Carabineros in Umhängen kamen vorbei, Gewehre über der Schulter, die Stiefel schwarz von den Aromos.

      Conchi hatte an jedem Wochenende dasselbe vor. Schneiderin, Friseur, Ballettunterricht, Tennisunterricht. Lunch im Crillon. Nachmittags Rugby oder Polo spielen. Tee im El Golf. Mit Lautaro Donoso trank sie Cocktails im Charles. Was, wenn er Wange an Wange tanzen wollte?

      Laura erwähnte, dass sie die vier Tage auf der Ibáñez-Grey-Farm verbringen würde. Conchi und Quena waren beeindruckt. Andrés Ibáñez-Grey war Senator für Bergbau, war Botschafter in Frankreich gewesen. Er war einer der reichsten Männer Chiles, dessen Anwesen im Süden die gesamte Breite des Landes umspannte, von den Anden bis zum Pazifik. »Chile ist ein schmales Land … aber trotzdem …!«, sagte Quena. Was keines der Mädchen wusste und Laura egal war, war die Tatsache, dass sowohl Ibáñez-Grey als auch ihr Vater für die CIA arbeiteten. Ihre Freundinnen wussten ebenfalls nicht, dass Lauras Eltern nicht mitkommen würden. Sie hatten an diesem Morgen davon Abstand genommen, ihre Mutter war wieder krank. Laura wusste, dass sie sagen würden, es gehörte sich nicht, dass sie alleine fuhr, auch wenn Don Andrés’ Schwester die Anstandsdame spielen würde. Es würde eine kleine Gesellschaft sein. Er war Witwer. Zwei seiner Söhne kamen und die Verlobte von einem der Söhne.

      Sie trennten sich mit der Abmachung, sich am Montagabend zu treffen, um für Chemie zu lernen. Zu Hause hängte Laura Hut und Blazer auf, zog die Schuluniform aus. Ihre Eltern gaben an diesem Abend einen Empfang. Ihr Vater gab ihn.

      Laura sah nach ihrer Mutter Helen, die schlief. Der Raum roch streng nach Joy-Parfüm und Gin. Auf dem Flur schlurfte der alte Damián vor dem Zimmer ihrer Mutter vorbei, Lappen um die Füße gewickelt, um den Parkettboden zu polieren, zu polieren. Er war immer da, im ersten Stock und im Erdgeschoss, tagein, tagaus, genau wie sein kleiner Enkel immer im Garten. Seine einzige Aufgabe bestand darin, die toten Blüten von den Azaleen zu zupfen. Zwei mozos und Domingo, der Butler, brachten einen Großteil der protzigen »französischen« Möbel in die Garage. Domingo half Laura, Unmengen an Aschenkraut und Ranunkeln aus dem Blumenladen, Narzissen aus dem Garten und Hunderte von Kerzen zu arrangieren. Überall waren Spiegel … Bei Gemälden konnte Helen sich nie entscheiden. Abends, wenn die Kerzen angezündet wären, würde es besser aussehen, sagte Laura. Sie ging mit Domingo und den Haushaltshilfen Listen durch, schaute nach den Fleischklößen, den Empanadas. María und Rosa waren aufgeregt; ihre Haare in Lockenwicklern.

      Laura zog ein Cocktailkleid an und trug Make-up auf, was sie in Gegenwart ihrer Freundinnen nie gemacht hätte. Sie sah wie mindestens einundzwanzig aus, hübsch und ein bisschen billig. Ihr Vater, im Smoking, klopfte an die Tür, und sie gingen nach unten. Sie begrüßten Leute des Militärs und Leute vom Bergbau, Diplomaten, chilenische und peruanische Würdenträger, den britischen und den amerikanischen Botschafter. Zu Lauras Aufgaben gehörte es, zu übersetzen; von den Amerikanern sprachen nur wenige spanisch. Helen hatte in drei Jahren nur »Traiga hielo« gelernt. »Traiga café.« Laura ging herum, stellte die Leute einander vor, machte Konversation. Von Señor Soto, einem heruntergekommenen bolivianischen Beamten, wurde sie bedrängt. Er machte Anspielungen, anzügliche Bemerkungen. Laura gab ihrem Vater ein Zeichen, der herüberkam, aber Señor Soto nur angrinste und sagte: »Ist sie nicht süß?« und ging. Laura befreite ihren Arm.

      Andrés Ibáñez-Grey war im Foyer. Sein Haar war silbern, seine Augen von einem so blassen Grau, dass sie wie die blicklosen Augen einer Statue aussahen. Domingo nahm ihm Hut und Mantel ab. Laura trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

      »Ich bin Laura. Nett von Ihnen, mich auf die Farm einzuladen, auch wenn meine Eltern nicht mitkommen können.« Don Andrés hielt ihre Hand fest in seiner.

      »Ted sagte, sein Kind würde mitkommen, nicht eine entzückende Frau.«

      »Ich bin vierzehn. Ich habe mich nur für dieses Fest schick gemacht. Bitte kommen Sie herein.« Der amerikanische Botschafter stand direkt vor ihnen. Die Männer umarmten einander. Laura floh, peinlich berührt.

      Sie brachte ein Tablett mit Essen und Kaffee zu ihrer Mutter hinauf, setzte sie im Bett auf. Laura beschrieb ihr das Essen und die Blumen, erzählte ihr, wie sich jeder gekleidet hatte, wer grüßen ließ.

      Sie erzählte Helen von Andrés Ibáñez-Grey. »Mama, er ist hundertmal beeindruckender als auf den Fotos.« Ein gebieterischer Jefferson.

      »Er ist auf jeden Fall mehr wert als so ein alter Zwanzig-Dollar-Schein!«, sagte Helen.

      »Ich wünschte, du würdest morgen mitkommen. Kannst du es dir nicht anders überlegen? Ich möchte nicht hinfahren.«

      »Sei nicht albern. Es soll fantastisch sein. Außerdem muss dein Daddy sich wirklich gut mit ihm stellen. Ich wünschte, ich könnte mich um diese Dinge kümmern.«

      »Welche Dinge?«

      Helen