Название | Metamorphosen |
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Автор произведения | Ovid |
Жанр | Языкознание |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159608006 |
»Steh uns versöhnt und gnädig bei«, beten die Frauen vom Ismenus. Sie vollziehen die heiligen Handlungen wie befohlen. Nur die Töchter des Minyas stören das Fest, indem sie im Hause zur Unzeit das Werk der Minerva verrichten: Sie ziehen Wolle oder drehen Fäden mit dem Daumen [35] oder verharren am Webstuhl und treiben die Mägde zur Arbeit an.
Pyramus und Thisbe
Eine von ihnen spinnt mit flinkem Daumen einen Faden und spricht: »Während andere faulenzen und erlogene Mysterien besuchen, hält uns Pallas, die bessere Göttin, fest; so wollen wir uns die nützliche Handarbeit mit mancherlei Reden versüßen [40] und im Wechsel, um uns die Zeit nicht lang werden zu lassen, unseren unbeschäftigten Ohren etwas berichten.« Die Schwestern stimmen ihren Worten zu und fordern sie auf, den Anfang zu machen. Sie überlegt, was sie aus ihrem reichen Schatz hervorholen soll – sie wußte nämlich sehr viele Geschichten –, und schwankt noch: Soll sie von dir, babylonische Dercetis, erzählen, [45] von der Palaestinas Bewohner glauben, sie sei verwandelt worden, habe ein Schuppenkleid erhalten und im Teich Wellen geschlagen? Oder soll sie lieber davon berichten, wie Dercetis’ Tochter Flügel bekam und ihre letzten Lebensjahre auf hohen Türmen zubrachte? Oder wie die Naiade durch Gesang und allzu zauberkräftige Kräuter [50] junge Männer in stumme Fische verwandelte, bis ihr dasselbe widerfuhr? Oder wie der Baum, der einst weiße Früchte trug, jetzt schwarze trägt, da er mit Blut bespritzt wurde? Dafür entscheidet sie sich, weil diese Geschichte unbekannt ist. Und sie begann folgendermaßen, während die Wolle gehorsam zum Faden wurde:
[55] »Pyramus und Thisbe, er der schönste der jungen Männer, sie herrlicher als alle Mädchen im Orient, bewohnten benachbarte Häuser in der hochgebauten Stadt, die Semiramis mit Mauern aus Lehmziegeln umgeben haben soll. Nachbarschaft machte sie miteinander bekannt und erlaubte ihnen die ersten Schritte der Annäherung. [60] Mit der Zeit wuchs die Liebe; sie hätten auch Hochzeit gefeiert, aber die Väter verboten es. Eines aber konnten sie nicht verbieten: Beide waren gleichermaßen in Liebe entbrannt, die ihnen den Verstand raubte. Keinen Mitwisser gibt es; sie sprechen durch Winke und Zeichen, und je mehr die Liebe versteckt wird, desto heißer schwelt ihre Glut. [65] Ein feiner Riß durchzog die gemeinsame Wand beider Häuser. Den hatte sie einst bekommen, als sie gebaut wurde. Diesen Fehler, den viele hundert Jahre lang niemand bemerkt hatte, saht ihr zuerst, ihr Liebenden – was merkt Liebe nicht? –, und machtet ihn zum Weg für eure Stimme. [70] Ungestört wanderten durch jene Ritze murmelnd geflüsterte Koseworte ständig hin und her. Kaum hatte sich hier Thisbe, dort Pyramus aufgestellt und der eine den Hauch vom Munde des anderen zu erhaschen versucht, sagten sie oft: ›Neidische Wand, was stehst du den Liebenden im Wege? Wie wenig würde es dir ausmachen zu erlauben, daß wir uns mit dem ganzen Körper vereinigen [75] oder, wenn dies zuviel verlangt ist, wenigstens so weit offenzustehen, daß wir uns küssen könnten! Doch sind wir nicht undankbar; wir bekennen: Dir verdanken wir es, daß die Worte den Weg zum Ohr des Geliebten finden.‹
Solches redeten sie vergeblich, jeder auf seiner Seite, sagten sich am Abend Lebwohl, [80] und jeder gab seiner Seite der Wand Küsse, die nicht hinübergelangten. Das nächste Morgenrot hatte die Sterne vertrieben, und Sonnenstrahlen hatten den Tau auf den Gräsern getrocknet. Sie trafen sich am gewohnten Platz. Lange klagen sie kaum hörbar murmelnd und fassen dann einen Beschluß: Sie wollen versuchen, [85] in stiller Nacht die Wächter zu überlisten, zur Haustür hinauszugehen und danach auch die Häuser der Stadt hinter sich zu lassen. Um nicht auf ihrer Wanderung im freien Feld umherirren zu müssen, wollten sie einander am Grab des Ninus treffen und sich im Schatten eines Baumes verstecken. Dort stand nämlich ein Baum, überreich an schneeweißen Früchten, [90] ein hoher Maulbeerbaum, dicht neben einer kühlen Quelle. Die Abmachung ist getroffen. Das Tagesgestirn, das ihnen allzu langsam fortzugehen scheint, versinkt im Meer, und aus demselben Meer steigt die Nacht herauf. Listig dreht Thisbe in der Dunkelheit die Tür in den Angeln, geht hinaus, ohne daß die Ihren es bemerken. Mit verschleiertem Gesicht [95] gelangt sie zum Grabhügel. Schon hat sie sich unter dem verabredeten Baum niedergelassen – die Liebe machte sie kühn! –, siehe, da kommt eine Löwin, deren schäumender Rachen mit frischem Blut besudelt ist, um ihren Durst am Wasser der benachbarten Quelle zu löschen. Von fern sah die Babylonierin Thisbe sie im Mondschein [100] und floh mit scheuen Schritten in eine dunkle Höhle. Auf der Flucht glitt ihr der Mantel von den Schultern, und sie ließ ihn zurück. Sobald die wilde Löwin ihren Durst mit viel Wasser gestillt hatte, fand sie zufällig auf dem Rückweg zum Wald den feinen Umhang ohne das Mädchen und zerfetzte ihn mit ihrem blutigen Maul. [105] Später verließ Pyramus das Haus. Er sah im tiefen Staub ganz deutlich die Spuren des wilden Tieres. Da erbleichte er übers ganze Gesicht. Doch als er auch noch das blutbefleckte Kleidungsstück fand, sprach er: ›Eine Nacht wird zwei Liebende vernichten. Thisbe hätte es wahrhaftig verdient, lange zu leben; [110] doch meine Seele ist voller Schuld. Ich habe dich, Bejammernswerte, getötet, da ich dich bei Nacht in eine gefährliche Gegend kommen ließ und nicht als erster hierherkam. Zerfleischt meinen Leib und verzehrt mit wildem Biß meine fluchbeladenen Eingeweide, all ihr Löwen, die ihr unter diesem Felsen haust! [115] Aber es zeugt von Ängstlichkeit, den Tod nur zu wünschen!‹ Er nimmt Thisbes Umhang, trägt ihn zum Schatten des Baumes, an dem sie sich verabredet hatten. Und nachdem er das vertraute Gewand mit Tränen benetzt und mit Küssen bedeckt hatte, sprach er: ›Trinke du jetzt auch mein Blut!‹ Und das Schwert, mit dem er umgürtet war, stieß er sich in den Leib. [120] Sogleich zog er es sterbend aus der heißen Wunde und lag rücklings am Boden. Da springt das Blut hoch empor, wie wenn lange Wasserstrahlen aus einem schadhaften Bleirohr durch einen feinen Riß zischend hervorschießen und stoßweise die Luft durchbrechen. [125] Vom Mordblut besprengt, werden die Früchte des Maulbeerbaumes schwarz, und von Blut gerötet, färbt die Wurzel die am Baum hängenden Maulbeeren purpurn.
Siehe, der Schrecken sitzt Thisbe noch in den Gliedern; aber sie kehrt zurück, um den Geliebten nicht zu enttäuschen. Ihr Auge, ihr Herz sucht den jungen Mann. [130] Und sie brennt darauf, von der großen Gefahr zu erzählen, der sie entronnen ist. Zwar erkennt sie den Ort und die Umrisse des Baumes, den sie erblickt; doch die Farbe der Früchte läßt sie zögern. Sie ist unsicher, ob es der richtige ist. Während sie noch zweifelt, sieht sie zuckende Glieder den blutigen Boden schlagen. Da trat sie etwas zurück. [135] Ihr Gesicht wurde bleicher als Buchsbaumholz, und sie erschauerte wie ein Meer, das zittert, wenn ein schwaches Lüftchen darüber hinstreicht. Sie hält inne. Schon hat sie ihren Liebsten erkannt und schlägt sich laut klatschend die Arme, die keine Schläge verdienen. Und indem sie sich das Haar raufte und den Leib des Geliebten umarmte, [140] füllte sie die Wunde mit Tränen, die sie mit dem Blut vermischte, drückte Küsse auf das eiskalte Gesicht und schrie: ›Pyramus, welches Unglück hat dich mir geraubt? Pyramus, antworte! Deine Thisbe ruft dich beim Namen, Liebster! Höre mich und hebe dein Gesicht vom Boden!‹ [145] Als er Thisbes Namen hörte, hob Pyramus die schon vom Tode beschwerten Augen zu ihr auf und schloß sie wieder, als er die Geliebte gesehen hatte. Kaum hatte sie ihr Gewand erkannt und die elfenbeinerne Scheide ohne Schwert gesehen, sprach sie: ›Deine eigene Hand und die Liebe haben dich, Unglücklicher, vernichtet! Auch ich habe eine Hand, [150] und für dies eine wird sie tapfer genug sein. Auch in mir ist Liebe, und sie wird mir Kraft geben, mich zu verwunden. Ich werde dir folgen und die Ursache deines Sterbens und deine Gefährtin im Tode heißen, ich Unglückselige! Dich konnte, ach, nur der Tod von mir trennen; aber nicht einmal der Tod soll dich von mir trennen können. Um dies eine freilich laßt euch bitten, [155] ihr vom Unglück geschlagenen Väter – der deine und der meine! Da uns treue Liebe, da uns die letzte Stunde verband – mißgönnt es uns nicht, im selben Grab bestattet zu werden! Du aber, Baum, der du jetzt den bejammernswerten Leib eines Menschen und bald deren zwei mit deinen Zweigen beschirmst – [160] behalte du die Zeichen des Mordes, trage stets dunkle, trauerfarbene Früchte als Denkmal für unser beider Blut!‹ Sprach’s, hielt sich die