„Ich glaube, damit hätten wir das Wichtigste geklärt“, gab Maja ihm nach über einer Stunde zu verstehen, während sie eine Akte vom Stapel zog und aufschlug.
Mark lächelte verkrampft und trat zur Tür. Ein letztes Mal drehte er sich um und wollte noch etwas sagen, doch Maja las bereits vertieft in den Unterlagen. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, als er auf den Flur des Justizgebäudes trat.
Kapitel 6 Donnerstag, 23. November
Bis zum Vormittag des darauffolgenden Tages hörte niemand etwas von Thomas Dahlmann. Gegen elf Uhr klingelte Marks Bürotelefon und ein verärgerter Dr. Karsten Mallow meldete sich.
„Karsten. Wie geht‘s? Gibt es Neuigkeiten?“, begrüßte Mark den Rechtsmediziner.
„Schön, dass wenigstens einer fragt. Ich dachte schon, ihr hättet alle das Handtuch geschmissen und Frühpension beantragt.“
Mark richtete sich auf. „Was soll das denn heißen?“
„Nun, bis auf Staatsanwältin Reinhold hat sich niemand von euch hier blicken lassen. Da kommt einem schon mal so ein Gedanke.“
„Dahlmann war noch nicht bei dir?“
„Nein, war er nicht. Und offen gestanden, komme ich mir langsam ziemlich verarscht vor.“
Mark zupfte an seiner Unterlippe und stand auf. „Karsten, hör zu: Wir wissen nicht, wo er steckt.“
„Wie ihr wisst nicht, wo er steckt? Wie darf ich das denn verstehen?“
„Das ist mein Ernst. Er hat niemandem Bescheid gesagt. Und über sein Handy erreiche ich ihn nicht. Aber da erzähl ich dir bestimmt nichts Neues.“
„Du sagst es. Nach dem fünfzigsten Mal habe ich aufgehört zu zählen“, antwortete Mallow.
„Pass auf. Ich fahr jetzt zu ihm nach Hause. Sobald ich was weiß, melde ich mich.“
„Tu das, aber vergiss es bitte nicht wieder“, brummte Mallow.
„Versprochen“, sagte Mark und beendete das Telefonat. Danach berief er eine Besprechung ein und informierte keine Stunde darauf das Ermittlungsteam über die derzeitige Lage. Sie sprachen über den Ermittlungsstand und diskutierten über die geplante Vorgehensweise, die Mark mit der Staatsanwältin kurz zuvor besprochen hatte. Den Ermittlern stand die Irritation ins Gesicht geschrieben, als Mark auf den abwesenden Thomas Dahlmann zu sprechen kam. Er wollte so wenig Aufruhr wie möglich und vermied es, auf die Fragen seiner Kollegen näher einzugehen. Dabei versuchte er, gleichgültig zu wirken und so ausweichend wie möglich zu antworten. Zum Ende des Meetings gab er vor, einen wichtigen Zahnarzttermin zu haben. Stattdessen aber beabsichtigte er, nach dem verschollenen KK11-Leiter zu suchen. Allein.
Eine Dreiviertelstunde darauf parkte Mark seinen BMW vor dem Anwesen der Dahlmanns, das in der Nähe des Südparks lag. Mit den heruntergelassenen Jalousien und dem verwilderten Vorgarten wirkte das Einfamilienhaus wie eine seit Jahren zum Verkauf angebotene leerstehende Immobilie. Doch je länger er das Grundstück betrachtete, desto befremdlicher wirkte es.
Er stieg aus und ging die dreistufige Sandsteintreppe hinauf. Oben angekommen blieb er stehen und blickte auf seine Uhr. Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm ein Gedanke kam, während sein Blick auf den Jalousien ruhte. Vielleicht waren sie schon länger unten? Er trat zur Haustür, spähte durch das Seitenfenster und klingelte. Dabei stach ihm sein dreckiger Schuh ins Auge, den er hastig an seinem Hosenbein abrieb. Er klingelte erneut, doch weiterhin blieb im Haus alles ruhig. Keine Schritte. Kein Geschirrklappern. Kein Staubsauger, der ausgestellt wurde. Mark drückte ein drittes Mal auf den Klingelknopf, aber außer Laubrascheln und das weit entfernte Gebell eines Hundes hörte es nichts. Diese vordergründige Idylle stank bis zum Himmel. Irgendetwas stimmte nicht.
Er hämmerte gegen die Haustür. „Herr Dahlmann? Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Hastig zog er sein Smartphone aus der Jackentasche und wählte die Handynummer seines Chefs. Er hatte nicht mitgezählt, wie oft er versucht hatte, ihn zu erreichen. Bisher hatte es immer geklingelt, ehe die Mailbox angesprungen war, doch dieses Mal schaltete sie sich direkt an.
Erst jetzt bemerkte er die ebenfalls geschlossenen Fensterläden in der oberen Etage. Der Garten, schoss es ihm durch den Kopf. Gut möglich, dass er von dort aus mehr erreichte.
Ein kühler Wind wehte ihm ins Gesicht und trieb ihm Tränen in die Augen, als er um die Hausecke bog. Verdutzt blieb er stehen und ließ seinen Blick über das Grundstück schweifen. Zuerst begriff er nicht, was er da sah. Sollte das tatsächlich dasselbe Paradies sein, das er im Sommer noch so bewundert hatte? Einige Monate waren seitdem vergangen. Längst waren die Blumen verblüht. Welke Blätter schwebten von den Bäumen zu Boden. Moosstraßen und Wegerich kämpften sich durch die schmalen Ritzen der Steinplatten. Der hohe Rasen erinnerte an eine abgelegene Waldwiese.
Nachdenklich drehte er sich zur großen Fensterfront. Immerhin versperrten keine Rollläden die Sicht zum Wohnbereich. Langsam näherte er sich der Terrassentür und registrierte die hängenden Köpfe der Kübelpflanzen und die unzähligen vertrockneten Blätter, die verstreut auf dem Teppich lagen. Kein Zustand, der sich innerhalb von zwei Tagen entwickelte. Irritiert drehte er sich zum Garten. Seit wann ließen die Dahlmanns ihr Anwesen so verkümmern? Und wo steckte seine Frau?
Vielleicht war sie für längere Zeit verreist? Und vielleicht war das der Grund, weshalb Dahlmann alles über den Kopf gewachsen war? Das wäre zumindest eine Erklärung für den desolaten Zustand der Pflanzen, denn jeder auf dem Revier wusste, dass sein Chef alles andere als einen grünen Daumen hatte. Doch was, wenn der Grund ein anderer wäre? Immerhin war er seit letztem Jahr gesundheitlich angeschlagen und noch längst nicht wieder der Alte. Welche Frau würde ihren Mann in so einer Situation allein lassen? Hinzu kamen Stefans Beobachtungen, die die Lage nicht gerade verbesserten.
Wieso hatten sie nicht bemerkt, wie es um Dahlmann bestellt war? Blödsinn, dachte Mark, natürlich hatten sie es mitbekommen. Innerhalb weniger Wochen hatte er stark abgenommen und war in schlechter physischer Verfassung zurückgekehrt, um die Suche nach einem vermeintlichen Serienkiller zu unterstützen. Sie hatten schlicht und ergreifend ignoriert, wie blass und dürr Dahlmann zu dem Zeitpunkt ausgesehen hatte. Über eineinhalb Jahre waren seitdem vergangen, und es war nicht zu übersehen, dass nach wie vor mit ihm etwas nicht stimmte. Spekuliert wurde allerdings nur hinter seinem Rücken, weil sich niemand traute, offen darüber zu sprechen. Vielmehr versuchten alle, dem Thema aus dem Weg zu gehen, so wie Bluter einer abgebrochenen Glasscherbe.
Er wandte sich der Fensterfront zu, hielt die Hand schützend an seine Stirn und spähte ins Wohnzimmer. Kahle Wände. Fehlende Bilder. Leerer Wohnzimmertisch. Die gesamte Dekoration, die das Haus wohnlich gemacht hatte, war verschwunden.
Er machte mit dem Handy ein Foto und rief danach Stefan an.
„Mark, wie lange brauchst du noch? Hier ist die Hölle los“, begrüßte ihn Stefan am anderen Ende der Leitung.
„Ich bin jetzt bei ihm zu Hause.“
„Bei wem? Etwa bei Dahlmann? Aber wolltest du nicht zum Zahnarzt?“
„Das war nur ein Vorwand. Ich wollte mir zuerst selbst ein Bild machen, bevor wir alle beunruhigen.“
„Das ist kräftig nach hinten losgegangen. Die sind doch nicht doof. Die merken doch, wenn etwas nicht stimmt. Und vergiss nicht: Wir haben einen Mordfall aufzuklären!“
Mark betrachtete schweigend den verwilderten Garten.
„Was hat der Alte denn gesagt?“
„Stefan, hier ist niemand … Halt mich für bescheuert, aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, hier wohnt schon seit Monaten keiner mehr.“