Animus. Astrid Schwikardi

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Название Animus
Автор произведения Astrid Schwikardi
Жанр Языкознание
Серия Köln-Krimi
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947612734



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tippte mit der Pinzette auf ihren Unterarm.

      „Diese dunklen Verästelungen sind Blutadern. Wir sagen auch Durchschlagen des Venennetzes dazu. Und wenn ihr hier mal schaut …“ Mallow bewegte die Pinzette zu den Gesichtsöffnungen. „Wenn aus Mund und Nase bräunliche Flüssigkeit austritt, dann ist das kein Blut, sondern Fäulnisflüssigkeit. Und nach einer angemessenen Zeit bilden sich auf der Haut Blasen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind und einreißen können. Die Verwesung ist sehr weit vorangeschritten. Wäre sie ertrunken, hätte ich auf knapp zwei Wochen getippt. Aber die Sache hat einen entscheidenden Haken.“

      „Der Algenrasen“, sagte Stefan.

      „Exactamente. Algen besiedeln eine Wasserleiche Pi mal Daumen nach drei bis vier Tagen, aber wie wir bereits festgestellt haben …“

      „… sind da weit und breit keine Algen“, beendete Mark den Satz.

      Mallow nickte. „Und noch etwas ist interessant: Angenommen sie wurde tatsächlich ermordet, und darauf deuten allein schon die Würgemale an ihrem Hals hin, dann war ihrem Mörder egal, ob sein Opfer schnell gefunden wird oder nicht.“

      Mark warf Stefan einen erstaunten Blick zu.

      „Woher weißt du das denn?“

      „Ein Mörder, der will, dass sein Opfer so lange wie möglich unentdeckt bleibt, befestigt einen schweren Gegenstand an der Leiche. Damit verhindert er, dass sie durch die Fäulnisgase an die Wasseroberfläche getrieben wird. Konkret bedeutet das: Wirft man eine stark verweste Leiche ins Wasser, muss man auf jeden Fall einen schweren Gegenstand an ihr befestigen, damit sie überhaupt untergeht.“

      „Was glaubst du, weshalb ihr Mörder so vorgegangen ist?“

      Karsten Mallow schnalzte mit der Zunge.

      „Schwer zu sagen. Vielleicht Zeitnot. Oder vielleicht wusste es der Mörder nicht besser. Aber das glaube ich nicht. Ich vermute schlicht und ergreifend Gleichgültigkeit“, mutmaßte Mallow, der jetzt mit der Pinzette eine Haarsträhne anhob.

      „Herr Birkholz. Herr Rauhaus. Schön, dass Sie sich auch mal blicken lassen. Und Karsten, kommst du voran?“, durchbrach die tiefe Stimme von Thomas Dahlmann ihr Gespräch.

      Der Leiter des Kriminalkommissariats KK11 und die Polizeibeamtin Barbara Roth überquerten den Sandstreifen und kamen geradewegs auf sie zu. Ein Windstoß wirbelte Dahlmanns graue Haare durcheinander und spielte mit seiner Stoffhose, wodurch sich seine dürren Beine abzeichneten. Erst letztes Jahr noch hatte sich unter seinem Hemd ein unübersehbarer Bauchansatz gezeigt. Seine Haare waren weitaus dunkler gewesen. Was hatte seinen Chef im letzten Jahr so altern lassen? Mark wusste keine Antwort, und er ertappte sich bei dem Gedanken, ob ein Zusammenhang bestand zwischen Dahlmanns beschleunigtem physischen Verfall und dem Telefongespräch, das Stefan belauscht hatte. Mark nickte seiner verhassten Kollegin Barbara Roth zu. Es kostete ihn Überwindung, obwohl er nicht sagen kannte, was genau ihn an ihr störte. Vielleicht war es ihr blonder Pagenkopf, der an den ausgefransten Haarschnitt einer Barbie-Puppe erinnerte, nachdem ein Mädchen die Haare mit einer Schere bearbeitet hatte.

      „Na Mark, heute die Elektrozahnbürste mit einem Kamm verwechselt?“, begrüßte ihn Barbara.

      Er bedachte sie mit einem schiefen Seitenblick und konterte: „Und die Augen deines Friseurs werden wohl auch immer schlechter.“

      „Du bist ja so witzig, Mark. Und so originell“, erwiderte sie überspitzt freundlich.

      Kommentarlos wandte er sich dem Rechtsmediziner und seinem Chef zu. „Das Opfer ist an einem anderen Ort ermordet worden. Im See ist sie nur entsorgt worden“, hörte er Mallow sagen, während Dahlmann die Frauenleiche betrachtete.

      „Wie lang lag sie ungefähr im Wasser?“, wollte sein Chef wissen.

      „Grob geschätzt? Keine zwölf Stunden.“

      Dahlmanns Augen weiteten sich und irritiert starrte er auf die Blasen und die Verfärbungen der Leiche. „Die muss doch gewaltig gestunken haben.“

      Mallow stand auf und trat neben Dahlmann. „Davon kannst du ausgehen. Die hat einige Zeit vor sich hingedümpelt, um es mal so zu sagen. Aber wenn du dir mal ihre Hände anschaust, da sieht man, dass diese typische Waschhaut kaum vorhanden ist“, sagte Mallow, während er die Pinzette in seinen Alukoffer zurücklegte und ihn zuklappte.

      Zwei Bestatter näherten sich und verfrachteten die Leiche der Frau in einen Leichensack.

      Mark nutzte den Moment der allgemeinen Aufbruchstimmung und verabschiedete sich von seinen Kollegen. Er überquerte den Strand und sah ein letztes Mal zum See. In der Ferne erkannte er Karsten Mallow, der sich gestikulierend mit Dahlmann unterhielt. Neben dem Rechtsmediziner stand Stefan, der seine Arme vor der Brust verschränkt hatte, zustimmend nickte und sich danach Barbara Roth zuwandte. Mark drängte sich an den Passanten vorbei und hörte, wie Walter energisch auf die Leute einredete, doch er verstand nur Wortfetzen.

      Er ließ den Strand hinter sich, schlenderte den schmalen Fußgängerweg hinauf und erreichte die Überdachung einer Eventlocation. Durch die Fensterscheiben erkannte er leere Stühle vor den festlich geschmückten Tischreihen. Er hielt sich rechts und passierte eine Tauchschule, vor deren Eingang ein Taucher in Lebensgröße stand. Danach durchquerte er das offenstehende Tor, durch das er schon auf dem Hinweg gegangen war, und schritt über den mit Laub bedeckten asphaltierten Weg. Hinter den Absperrpollern bog er in den Stallagsbergweg ein, wo er seinen Wagen auf dem Parkplatz der Paintballanlage geparkt hatte. Er schloss die Fahrertür auf und setzte sich hinters Lenkrad, doch augenblicklich jagte ein stechender Schmerz durch seine Schulter. Er stöhnte auf und schnellte mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn. Doch das Brennen in seiner Schulter ließ nur langsam nach. Je nach Wetterlage machte sich seine Verletzung bemerkbar, die er sich bei einem Schusswechsel eingefangen hatte. Wobei der körperliche Schmerz zu ertragen war. Im Gegensatz zu dem Seelenschmerz, den er empfand, wenn er an seine tote Schwester Patricia dachte. Fast zweieinhalb Jahre war es her, dass sie Patti neben einem Waldweg gefunden hatten. Ermordet. Von einer menschlichen Bestie, von der seitdem jede Spur fehlte. Die grausamen Bilder vom Tatort, die sich in Marks Kopf unlöschbar eingebrannt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf, und es kam ihm vor, als wäre seitdem kein Tag vergangen. Davor hatte er sich am meisten gefürchtet. Dass die Bilder nie verblassen und die Wunden erneut aufreißen würden, sobald wieder eine junge Frau ermordet worden war.

      Den Abend zuvor hatte der 1. FC Köln gegen Schalke mit einem erfolgreichen 2:0 den Klassenerhalt geschafft. Schon während des Spiels hatten sie ausgiebig gefeiert. Die Quittung dafür hatte Mark prompt am nächsten Morgen kassiert. Kopfschmerzen vom allerfeinsten, aber ansonsten war seine Laune ungetrübt, bis am späten Vormittag Walter angerufen und sie über einen Leichenfund unterrichtet hatte. Angeblich hatte ein Bürger in der Nacht aus dem angrenzenden Wald Schreie gehört und ein Gewaltverbrechen befürchtet.

      Am Tag darauf war seine Vermutung zur traurigen Gewissheit geworden, nachdem ein Reiter eine tote Frau in der Nähe eines Wanderweges gefunden hatte.

      Zu dem Zeitpunkt hatte Mark noch nicht geahnt, wie gravierend sich die nachfolgenden Stunden auf sein weiteres Leben auswirken sollten. Unmittelbar nach Walters Anruf hatten sich Mark und Stefan auf den Weg zum Tatort gemacht. Noch heute klang der Song von Iron Maiden, den Stefan auf der Hinfahrt lautstark mitgesungen hatte, in Marks Ohren. Die Luft im Fahrzeuginneren war stickig gewesen. Er hatte die Klimaanlage aufgedreht und gleichzeitig das Radio lauter gestellt, um Stefans schiefes Gepfeife nicht hören zu müssen. Danach hatte er eine halb volle Coladose geleert und gefragt: „Wo müssen wir überhaupt hin?“

      Noch heute erinnerte er sich an Stefans Gesichtsausdruck, mit dem er ihn angesehen hatte.

      „Ich dachte, du wüsstest …“

      „Weiß ich auch. Die nächste Straße links. Irgendwo da vorn müsste es sein“, hatte er selbstgefällig geantwortet.

      Keine Minute darauf hatten sie an einem Straßenrand geparkt. Walter Gries war ihnen winkend entgegengeeilt und hatte gewartet, bis sie ausgestiegen waren.

      „Wo