Dr. Daniel Norden telefonierte, als Felix, aus der Schule kommend, ungestüm ins Zimmer stürzte.
»Pssst!« zischelte Fee mahnend, und sofort ging der Junge auf Zehenspitzen. Er blieb abrupt stehen, als er hörte, wie sein Vater sagte: »Ist schon okay, Emely, ich bin in einer halben Stunde in der Praxis.«
»Was ist mit Emely?« fragte Felix aufgeregt, denn er wartete bereits seit einer Woche auf eine Nachricht von seiner Freundin, die seit ein paar Monaten mit ihrer Mutter im Schwarzwald lebte.
»Du brauchst dich nicht aufzuregen, es handelt sich um eine andere Emely«, erklärte Daniel mit väterlicher Nachsicht.
»Aber du bist besorgt«, stellte Fee fest.
»Sie scheint ziemlich verwirrt zu sein, das ist man von ihr nicht gewohnt«, erwiderte Daniel nachdenklich.
»Vielleicht muß sie sich erst wieder an München gewöhnen«, meinte Fee. »Es kann doch nicht sein, daß es schon Eheprobleme gibt.«
»Wundern würde es mich nicht«, sagte Daniel ironisch.
»Was soll denn das heißen?« fragte Fee irritiert.
»Er bildet sich ein bißchen zuviel ein, das wird Emely inzwischen auch zu spüren bekommen.«
»Aber sie liebt ihn doch, und du kennst ihn kaum.«
»Liebe macht manchmal blind, mein Schatz, aber ich werde schon erfahren, was sie bedrückt.«
»Dann werde ich es hoffentlich auch erfahren«, meinte Fee anzüglich. »Vergiß es nicht wieder.«
Er küßte sie auf die Nasenspitze. »Wichtige Dinge vergesse ich nicht, das solltest du wissen.«
»Sag ihr, daß sie mich besuchen soll, wenn sie sich einsam fühlt. Jörn wird in seiner neuen Stellung im Klinikum gefordert sein.«
»Sie werden ihm hoffentlich zeigen, wo es langgeht«, murmelte Daniel, und es klang sogar ziemlich bissig. Fee fand das doch eigenartig, denn abfällig hatte sich Daniel über den Kollegen noch nie geäußert. Hatte Emely doch eine Bemerkung über ihren Mann gemacht?
Fee Nordens Gedanken wanderten fünf Jahre zurück. Sie wollte es gar nicht glauben, daß es tatsächlich schon so lange her war, daß sie Emely Reiker auf der Insel der Hoffnung kennengelernt hatte, wo sich die junge Kollegin von einem Reitunfall erholte.
Emely hatte erst kurz zuvor promoviert und hätte schon vier Wochen später ihre erste Stellung antreten können. Sie wollte bis dahin unbedingt wieder fit sein, und mit eiserner Energie hatte sie es auch geschafft.
Fee und Daniel konnten darüber nur genauso staunen wie Dr. Cornelius. So hatten sie sich angefreundet und blieben auch in Verbindung, bis Emely Jörn Brink kennenlernte, der zu dieser Zeit Assistenzarzt an einer Kölner Klinik war.
Bereits vier Monate später kam die Heiratsanzeige. Das junge Ehepaar ging für zwei Jahre in die Schweiz, dann für weitere zwei Jahre nach Straßburg. Es schien alles in bester Ordnung zu sein, aber Emely schrieb nicht mehr so regelmäßig wie früher. Dann kam die Nachricht, daß ihr Vater verstorben war, und sie kam allein nach München zurück, um den Nachlaß zu regeln.
Seither hatten Fee und Daniel nichts mehr von ihr gehört, bis zum heutigen Tag.
Daniel Norden hatte es nicht weit bis zu seiner Praxis und wäre gern bei diesem schönen Frühlingswetter zu Fuß gegangen, aber er brauchte sein Auto für dringende Notfälle, denn manchmal konnten Minuten über ein Menschenleben entscheiden. Er hatte das schon öfter erlebt.
Emely wartete schon auf ihn, und er war erschrocken, als er sie sah. Er hatte sie als sehr aparte und lebensfrohe junge Frau in Erinnerung. Jetzt wirkte sie so blaß und zerbrechlich, daß es ihn schmerzte.
Er griff gleich nach ihrem Arm und stützte sie, weil sie schwankte, aber auch er fand erst ein paar Worte, als sie sich in der Praxis befanden. Wendy war noch nicht anwesend, sie brauchte erst nach fünfzehn Uhr zu kommen.
»Wir sind allein, das ist gut«, sagte Emely tonlos. »Ich danke Ihnen, Daniel, daß Sie Zeit für mich haben.«
»Sie hätten auch zu uns nach Hause kommen können. Fee hätte sich gefreut. Allerdings wären wir dann nicht ungestört, da wir neugierige Kinder haben.«
»Es ist besser so.« Ihre Stimme zitterte und auch ihre Hände, wie er gleich feststellte.
»Was fehlt Ihnen, Emely?« fragte er besorgt.
»Das ist eine längere Geschichte, aber ich muß einmal mit einem Menschen, dem ich vertrauen kann, darüber sprechen. Aber sagen Sie bitte nicht, daß ich an Verfolgungswahn leide.«
»Ich möchte erst hören, was Sie quält, bevor ich eine Diagnose stelle. Ich glaube, Sie brauchen mehr einen Freund als den Arzt.«
»So ist es«, nickte sie. »Ich dachte, hier würde es aufhören mit dem Spuk, aber ich habe mich geirrt. Ich fühle mich scheußlich. Zuerst hat mich mein Mann ausgelacht, jetzt nennt er mich schon paranoid. Wir entfernen uns immer weiter voneinander. Dabei hoffte ich doch, wenigstens bei ihm Verständnis zu finden.«
Dr. Norden betrachtete sie mitfühlend, denn die Verzweiflung war ihr anzusehen.
»Erzählen Sie mir bitte genau, wodurch Sie sich bedroht fühlen, Emely.«
»Vielleicht werden Sie mich auch für verrückt halten«, flüsterte sie tonlos.
»Das werde ich nicht. Verrückte suchen keine Hilfe und kein Verständnis, sie fühlen sich im Recht. Das müßte Ihr Mann als Arzt auch wissen.«
»Er liebt mich nicht mehr, ich bin ihm nur noch lästig.« Ihre Hände verkrampften sich ineinander, daß die Finger ganz weiß wurden. Sie suchte nach Worten und begann endlich stockend zu erzählen.
»Es begann vor einem Jahr, nach Jörns Geburtstag. Wir haben ihn mit ein paar Freunden in Straßburg gefeiert, in einem sehr guten Restaurant, das für sein exzellentes Essen und guten Service bekannt ist. Wir wurden auch nicht enttäuscht, aber es sollte der letzte unbeschwerte Tag in meinem Leben sein.«
Ihre Stimme wollte ihr wieder nicht gehorchen.
»Wie viele Gäste waren anwesend?« fragte Daniel aufmunternd, denn ihre düstere Miene ließ wahrlich Schlimmes ahnen.
»Es waren zwei Kollegen von Jörn mit ihren Frauen, meine Freundin Dana und ein Psychologe, den ich vorher nicht gekannt habe. Die Unterhaltung war lebhaft und im gewohnt losen Umgangston, der mir nicht so liegt. Jörn spottete, daß ich prüde sei. Die Kollegenfrauen und Dana amüsierten sich über die derben Witze. Vielleicht bin ich wirklich zu empfindlich, aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ich dann durchgemacht habe. Sie dürfen nicht denken, daß Ich Mißtrauen gegen die Kollegen hege, ich rätsel nur, wer mich so hassen könnte, um mich so zu quälen.«
»Können Sie mir das genauer schildern, Emely? Ich möchte Ihnen gern helfen, aber ich müßte Zusammenhänge finden. Haben Sie schon mal beruflichen Ärger gehabt? Und nehmen Sie mir diese Frage bitte nicht übel, hat Ihr Mann eine Beziehung zu einer anderen Frau?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber es gibt keine Beweise. Er ist sehr beliebt bei Frauen, bei Kolleginnen und auch bei Patientinnen. Es haben öfter welche auch privat bei uns angerufen, aber er hat darüber nur gelacht, und für mich gab es immer nur den einen Mann.«
»Sie sind eine attraktive Frau, und ich kann mich erinnern, daß Sie manche Verehrer hatten.«
»Seit ich Jörn kenne, bestimmt nicht mehr. Ein anderer Mann hätte auch keine Chance bei mir gehabt. Als ich mich verfolgt fühlte, dachte ich zuerst auch, daß es dieser Psychopath sei, der…«
»Welcher Psychopath?« wurde sie von Daniel unterbrochen.
»Als ich Assistenzärztin war, betreute ich eine alte Dame, die sehr labil war. Sie wollte keinen anderen Arzt, nur mich. Dann wollte sie mich mit ihrem Sohn verkuppeln. Sie war sehr reich und dachte wohl, sie könnte mich damit ködern. Ihr Sohn war schizophren, man sah es ihm aber nicht an. Er verfolgte mich damals tatsächlich, schickte mir Blumen und Geschenke, sogar Schmuck, aber ich gab alles zurück und machte