Das Medaillon. Gina Mayer

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Название Das Medaillon
Автор произведения Gina Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943121971



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muss die Gebeine zuerst einmal genau untersuchen und vermessen, bevor irgendwelche Schlüsse gezogen werden können«, sagte Fuhlrott ausweichend.

      Kuhn betrachtete die Knochenteile auf dem Tisch, ohne etwas zu entgegnen, mit schief gelegtem Kopf.

      »Die Arme«, meinte er nach einer Weile zusammenhanglos. »Ganz erstaunlich. Der rechte Oberarmknochen ist erheblich stärker als der linke.«

      »Das ist wahr«, stimmte ihm Fuhlrott zu. »Also handelt es sich am Ende nicht nur um ein Individuum, sondern um zwei verschiedene? Vielleicht Mann und Weib?«

      »Vielleicht.« Kuhn nahm den linken Knochen auf, dann verfiel er erneut in ein ausgedehntes Schweigen, während seine Finger wieder und wieder über das untere Ende des Knochens tasteten. »Unter Umständen aber auch nicht.«

      »Wie bitte?«, fragte Fuhlrott.

      »Meiner Meinung nach könnte es sich um eine Verletzung handeln«, erklärte Kuhn. »Das Gelenk ist beschädigt. Sehen Sie.« Er nahm auch die dazugehörige Elle auf und steckte das obere Ende in das Ellenbogengelenk des Oberarmknochens, dann hebelte er den Unterarm mehrmals auf und ab, die Bewegung war zackig und unregelmäßig. Es sah aus, als winkte der Skelettarm ihnen zu. »Sehen Sie?«, sagte er noch einmal und Fuhlrott nickte. »Wenn das Individuum seinen Arm nicht richtig einsetzen konnte, ist möglicherweise der Muskel verkümmert. Das wiederum würde die geringere Knochenmasse erklären.«

      »Ich habe die Beschädigung am Gelenk wohl bemerkt«, meinte Fuhlrott. »Aber vielleicht ist sie ja auch der groben Behandlung durch die Steinbrucharbeiter zuzuschreiben. Die Männer haben die Gebeine mit Spitzhacken aus dem Lehm geschlagen. Wir sollten das Relikt genauer untersuchen. Ein Brennglas wäre äußerst nützlich.«

      Nun sahen beide Männer Rosalie an, die einen Moment lang verständnislos zurückstarrte, bis sie begriff, was man von ihr erwartete. »In der Praxis.« Ihr Vater lächelte ihr aufmunternd zu.

      Sie ging die Stufen hinunter, zuerst schnell, aber dann wurde sie mit jedem Schritt langsamer und gleichzeitig wütender. Es ist immer dasselbe, dachte sie, sie beachten mich nicht, es ist, als ob ich gar nicht da wäre. Aber wenn es etwas zu besorgen gibt, wenn ein Bierkrug geholt werden soll, ein Buch oder ein Vergrößerungsglas, dann erinnern sie sich an mich, dann bin ich gerade recht.

      Sie legte die Lupe mit großem Nachdruck auf den Tisch, das Geräusch war so laut, dass die beiden Männer ihr Gespräch unterbrachen und sie irritiert ansahen.

      »Das Brennglas. Hier ist es.«

      »Danke, mein Liebes«, sagte ihr Vater, während er die Lupe aufnahm und an Fuhlrott weiterreichte, dann beugten sie sich über die braunen Knochen, Seite an Seite, Kopf an Kopf, und hatten sie schon wieder vergessen.

      »Gute Nacht«, sagte Rosalie.

      Die alte Friedel zog die kleine Holzkiste unten aus der Kaffeemühle, schüttete das Pulver in die Kanne und goss kochendes Wasser darüber. Augenblicklich erfüllte Kaffeeduft die Küche, aromatisch und gleichzeitig ein wenig bitter. Rosalie schnupperte lächelnd, aber dann fiel ihr Blick auf die Fliesen über dem Herd, deren ehemals weiße Oberfläche gelblich geworden war, verziert von Ornamenten aus Fett und Fliegendreck, und sie verzog das Gesicht. Friedels Augen waren nicht die besten und beim Putzen war sie nicht die Gründlichste. Rosalie tat sich schwer damit, die alte Dienstmagd zurechtzuweisen. Gut, dass ihre Mutter nicht mehr erleben musste, was für eine erbärmliche Hausfrau sie geworden war. Aber vielleicht war sie ja selbst nicht ordentlicher gewesen, Rosalie hatte sie ja nie kennengelernt.

      Sie hörte ihren Vater aus seinem Zimmer kommen, seine schlurfenden Schritte im Flur. Dann stand er im Türrahmen und sie überlegte, ob sie ihn einfach ignorieren sollte, wie Fuhlrott sie immer ignorierte, aber stattdessen siegte ihre Neugier. »Was habt ihr herausgefunden gestern Nacht?«, erkundigte sie sich, als er am Tisch Platz genommen hatte, die Augen hinter den Brillengläsern rot und geschwollen vom Schlafmangel. »Ist es nun ein Urmensch oder nicht?«

      Sofort verschwand die Müdigkeit aus seinem Gesicht, er wog den Kopf hin und her und lächelte dabei. »Es ist noch zu früh, ein abschließendes Urteil abzugeben, und man wird andere Experten, andere Wissenschaftler hinzuziehen müssen, das ist ganz außer Frage, aber nach unseren Untersuchungen deutet alles darauf hin, dass es sich um ein menschliches Individuum aus dem Ante-Diluvium handelt.« Er fuhr sich mit den Zeigefingern hinter den Brillengläsern über die Augen. »Fuhlrott will die Entdeckung im Verein vorstellen, ehe er sich damit an die Öffentlichkeit wagt.« Der Verein, das war der Naturwissenschaftliche Verein für Elberfeld und Barmen, den Fuhlrott vor ein paar Jahren gegründet hatte. Jeden Dienstag traf man sich, um Fragen der Botanik, Geologie und Archäologie zu diskutieren.

      »Aber wenn das stimmt, das wäre ... unglaublich«, sagte ­Rosalie.

      »Es wäre weltbewegend – wie die Erkenntnisse eines Galilei.«

      Er rührte in dem Kaffee, den Friedel ihm hingestellt hatte, und sah mit leuchtenden Augen an Rosalie vorbei. Rosalie dachte daran, dass Galileo Galilei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre, wenn er seiner Überzeugung nicht abgeschworen hätte, und fröstelte plötzlich, obwohl es ein warmer Sommermorgen war.

      Sie erzählte Dorothea von den Knochenfunden, als sie am Nachmittag zusammen Brombeeren pflückten.

      »Ein Urmensch«, sagte Dorothea ungläubig.

      »Ja, und nach der Beschaffenheit des Schädels zu urteilen, muss er recht wunderlich ausgesehen haben«, sagte Rosalie. »Der Kopf war viel flacher als der unsrige und über den Augenbrauen hatte er vorstehende Knochenwülste wie die Affen und auch die Glieder waren plumper und schwerfälliger. Es war eine primitive Vorstufe zu unserer heutigen Art.«

      »Aber Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen am sechsten Tag«, meinte Dorothea. »In der Bibel steht nichts davon, dass er ihn nach der Erschaffung noch weiter verbessert hat.«

      Rosalie schwieg betreten. Natürlich, trotz der unzähligen Bücher, die Dorothea verschlang, war sie doch ganz im bibeltreuen Glauben ihrer Eltern verhaftet und eine wissenschaftliche Denkweise war ihr fremd. Es war dumm gewesen, ihr von den Gebeinen zu erzählen. Ihrem Vater und Fuhlrott jedenfalls würde es nicht gefallen, wenn die Nachricht von spektakulären Funden aus der Urzeit die Runde machte, noch bevor sie die Knochen richtig untersucht hatten. Ihr Ruf war ohnehin nicht der beste. Kuhn galt als verschroben und freidenkerisch und Fuhlrott war Katholik und gehörte einer Freimaurerloge an, weshalb man ihn auch nicht zum Direktor seiner Schule gemacht hatte, sondern nur zum Stellvertreter. Und Rosalie war sich ganz sicher, dass Pastor Sommer damals Fuhlrott gemeint hatte, als er in einer Predigt gegen jene Ketzer gewettert hatte, die die heilige Ordnung der Schrift leugneten und die Wissenschaft höher als den einzig wahren Glauben stellten.

      Sie blickte etwas unbehaglich zu Dorothea hinüber, aber diese begegnete ihrem Blick nicht, sie hielt die Augen auf ihren Korb gesenkt, dessen Boden mit Beeren bedeckt war. »Vielleicht war es ja gar kein Urmensch, sondern etwas ganz anderes. Ein großes Tier oder ein Riese ...«, meinte Rosalie zögernd.

      Dorothea antwortete nicht und blickte auch nicht auf.

      Schweigend pflückten sie weiter und Rosalie streckte ihre Finger nach ein paar prallen Beeren, aber sie erreichte sie nicht. Als sie den Arm zurückzog, riss sie ihn an einer Dornenranke auf, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen erschien ein langer Kratzer auf der Haut, zuerst weiß, dann füllte er sich mit Blut.

      »Was ist eigentlich aus der Sache mit Kirschbaum geworden?«, fragte sie, um das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu bringen. »War er gekränkt über deine Absage?«

      Dorothea ließ ein paar Beeren von der rechten Hand in die linke gleiten, die sie wie eine Schale hielt, und betrachtete nachdenklich die Früchte, als habe sie vergessen, was sie damit anfangen wollte. »Ich habe nicht abgelehnt«, sagte sie schließlich leise.

      »Ich verstehe nicht.« Rosalie suchte wieder Dorotheas Blick und dieses Mal hob Dorothea den Kopf und sah sie an. Im grellen Sommerlicht hatten ihre Augen einen schwarzen, harten Glanz, wie die Beeren in ihrer Hand. »Ich habe ihm zugesagt«, sagte sie. »Ab Montag werde ich für ihn