Das Medaillon. Gina Mayer

Читать онлайн.
Название Das Medaillon
Автор произведения Gina Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943121971



Скачать книгу

in die Nordstadt, als er ihr begegnete. Er fragte sie nichts, er schaute sie einfach nur an. Schließlich wachte sie schweißgebadet auf und überlegte, ob sie jetzt gleich, mitten in der Nacht, aufstehen und zu Rosalie laufen sollte, um ihr alles zu beichten.

      Am nächsten Morgen ging sie auf dem Weg zur Bibliothek bei ihr vorbei. Vor dem Haus stieß sie fast mit Dr. Kuhn zusammen, der mit seinem Arztkoffer in der Hand die Stufen hinuntereilte.

      »Rosalie ist nicht zu Hause, sie wird auf dem Markt sein«, sagte er und lief weiter, doch dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Wie geht’s dem Bruder?«

      Dorothea zuckte mit den Schultern. Nicht gut, Traugott spuckte zwar kein Blut mehr, aber er hustete noch genauso wie vor zwei Wochen und dennoch war er heute Morgen wieder mit dem Vater in die Hofaue gegangen, aber das wollte sie dem Doktor nicht sagen.

      »Schön ausruhen soll er sich, gut auskurieren!«, rief Kuhn, seine Stimme dröhnte über die ganze Straße. »Luftveränderung wäre das Beste«, rief er, dabei hob er die Hand und winkte ihr zu, aber vielleicht winkte er auch nach der Droschke, die gerade oben in die Laurentiusstraße einbog.

      Sie nahm sich vor, am Abend nur ganz kurz bei Tante Lioba zu bleiben und danach zu Rosalie zu gehen, aber dann kam alles ganz anders. Am Vormittag, kurz nach zehn, stand plötzlich Walpurga zwischen den Bücherregalen. Dorothea erkannte sie zuerst gar nicht, weil sie einfach nicht hierhin gehörte. Dann sah sie, dass Walpurgas Augen rot und geschwollen waren vom Weinen.

      »Mein gutes, liebes Fräulein Dorothea«, rief sie mit zitternder Stimme und tupfte sich mit einem zerknüllten Taschentuch die glänzende Nase.

      Dorothea spürte, wie ihr von einer Sekunde zur anderen schwindlig wurde vor Angst, und sie war dankbar, dass plötzlich Kirschbaum da war, der sie sanft berührte und zu einem Stuhl führte, auf den sie sich setzen konnte.

      5. Kapitel

      »Was die Erschaffung des Menschen betrifft, soll es seiner unwürdig sein, wenn wir ihn als die höchste und letzte Entwicklung des thierischen Lebens betrachten und jeden Vorzug seiner Natur aus der Vollendung seines Organismus herleiten, ist er darum weniger gut aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, wenn dieser in dem dunklen Schoosse ungezählter Jahrtausende die Thiergestalt nach und nach veredelte, bis das menschliche Gebilde, das man sein Ebenbild genannt hat, erreicht war?«

      (aus »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten« von Hermann Schaaffhausen, 1853)

      Im Sommer war es der schönste Platz der Stadt. Dann standen die Rosenbüsche in voller Blüte, ein Blütenkopf neben dem anderen, rot und rosa und purpur, und der Boden war bedeckt von duftenden Blättern. Mindestens einmal im Sommer kam Rosalie hier heraus. Sie setzte sich auf eine der Bänke unter den Bäumen und blickte auf die blühenden Büsche, die sich über die grauen Steinplatten beugten, atmete den Duft der Blumen ein und wurde ganz ruhig. Gottes Acker.

      Auch jetzt, Ende März, war es Gottes Acker, aber jetzt war es ein karger Ort, ein schlafender Ort. Ein Ort in Erwartung seiner Auferstehung im Sommer. Jetzt streckten die Rosenbüsche ihre kurzen, kahlen, dornigen Arme in den grauen Himmel, es sah aus, als bettelten sie um Schnee, um die sanfte, weiße Decke, die ihr nacktes Holz den Winter über gnädig verhüllt hatte. Stattdessen blies ein scharfer Wind feine Regentropfen über die flachen Steine und das Efeu zwischen den Grabhügeln. Er blähte die Röcke der Frauen auf und zerrte an ihren Schutenhüten und riss am schwarzen Talar Kohlbrügges, der vorn am Grab stand, die Bibel aufgeschlagen in der Hand.

      Kohlbrügge richtete die Augen nach oben und schaute über die Köpfe der Trauergemeinde hinweg. Er schien seine Worte vom Himmel abzulesen oder aus den kahlen Ästen der Bäume hinter dem Friedhof. »Durch eigene Schuld bin ich dem Tod anheimgefallen«, rief er, während die Blätter der Bibel flatterten, als wollte das Buch von ihm wegfliegen, »und dieser Leib, worin ich mich befinde, was ist er anders denn ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch!«

      Rosalies Gedanken schweiften ab, zu dem kleinen Körper in dem schmalen Sarg, bei dem die Verwesung, von der Kohlbrügge sprach, schon ihren Anfang genommen hatte.

      Dann begann man zu singen, aber Rosalie kannte das Lied nicht. Sie sah zu Dorothea hinüber, die neben ihrer Mutter stand und ebenfalls nicht mitsang. Ihre Augen waren rot und geschwollen, aber sie wirkte gefasster als vorhin bei der Trauerandacht in der Königsstraße in der engen, feuchten Stube.

      Das Gesicht ihres Vaters war hart und grau wie die Grabplatten. Seine Frau dagegen schien ruhig und gefasst, fast heiter unter ihrer schwarzen Schute. Ihre Hände umklammerten ihr Gesangsbuch, aber es war nicht aufgeschlagen, sie kannte die Lieder auswendig. Wenn man sie sieht, möchte man meinen, dass es ein ganz normaler Gottesdienst ist, dachte Rosalie. Dabei trägt sie ihren Sohn zu Grabe, ihr jüngstes Kind.

      Herr Leder und zwei andere Männer ließen den kleinen Sarg in das große Grab hinabsinken und Dr. Kohlbrügge begann wieder zu sprechen, jetzt las er aus der Bibel. »Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leib werden sie kommen?« fragte er. »Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn.«

      Der Sarg war nun im Erdboden verschwunden und die Männer beugten sich über die Grube, als wollten sie ihm nachblicken, aber sie zogen nur die Seile wieder hoch, mit dem sie ihn hinuntergelassen hatten. Frau Leder nickte und verzog den Mund, es sah aus, als ob sie lächelte.

      »Nicht alles Fleisch ist das gleiche Fleisch«, las Kohlbrügge, »sondern ein anderes Fleisch haben die Menschen, ein anderes das Vieh, ein anderes die Vögel, ein anderes die Fische.« Rosalie musste unwillkürlich an ihren Vater und Fuhlrott denken und an ihre Naturstudien. Diese Bibelstelle hätte ihnen gefallen. Und dieser Friedhof würde ihnen gefallen, auf dem alle gleich waren – Arme und Begüterte, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene. Bei den Niederländisch-Reformierten gab es keine Verwesungsgräber, in denen die Armen verscharrt wurden, und keine prachtvoll verzierten Grabstätten für die Reichen. Ein Rosenstock und ein Stein kennzeichneten jedes Grab und Hermanns Grab würde die Nummer 79 tragen, denn er war der neunundsiebzigste Tote in der Gemeinde.

      »Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib«, las Kohlbrügge. »Amen«, murmelte neben Rosalie eine alte Frau. Dr. Kohlbrügge klappte seine Bibel zu und senkte den Kopf zum stillen Gebet. Auch Rosalie senkte den Blick zu Boden und als sie ihn wieder hob, sah sie Frau Leder schwanken und dann knickte sie in den Knien ein und fiel langsam, ganz langsam nach vorn. Im letzten Moment hielten Dorothea und ihr Mann sie fest, bevor sie kerzengerade im Grab ihres Kindes landete.

      Danach zerstreuten sich alle rasch, sie gingen zur Totenfeier. Rosalie blieb noch ein paar Minuten vor dem offenen Grab stehen, dann setzte auch sie sich in Bewegung. Über die neue Lindenallee ging sie zur Straße nach Elberfeld hinunter. Sie schrak zusammen, als sich vor ihr plötzlich eine kleine, untersetzte Gestalt aus dem Schatten eines Baums löste. Es war ein Mann und auch er schien zu erschrecken, als er sie bemerkte, offensichtlich hatte er hinter einem Baumstamm abgewartet, bis alle weg waren. Er schob seinen dunklen Hut tiefer in die Stirn und hastete mit gesenktem Kopf durch den Nieselregen davon.

      Sie hatte ihn dennoch erkannt, in dem kurzen Moment, in dem er ihr sein Gesicht zugewandt hatte. Es war Isaak Kirschbaum, der Jude, bei dem Dorothea arbeitete.

      Hermann hatte auf der Straße gespielt, an dem letzten kalten, sonnigen Märzmorgen in seinem Leben, es waren auch andere Kinder dabeigewesen, aber Hermann war der Einzige gewesen, der mitten auf der Straße gesessen hatte. Dort gab es eine besonders schöne, große Pfütze, auf der er einen Staudamm baute, er hatte ihn fast fertiggestellt, als die Droschke um die Ecke jagte und sein Werk zerstörte und ihn auch.

      Rosalie hatte es erst zwei Tage später erfahren, von den Frauen an der Pumpe, und sie war am gleichen Abend zu den Leders gegangen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen. Sie war nur kurz geblieben und Dorothea war ihr wie versteinert erschienen, von allen Brüdern war ihr Hermann der liebste gewesen. Als Rosalie ging, begleitete Dorothea sie zur Haustür. »Das hat der allmächtige Herrgott getan«, flüsterte sie Rosalie zu. »Er hat uns Hermann genommen, um mich für