Die Eimannfrau. Erich Wimmer

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Название Die Eimannfrau
Автор произведения Erich Wimmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783907146835



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wenn ein Fisch auf seinem Foto zu sehen wäre – hier kennt uns niemand!»

      «Wir hätten Masken tragen sollen», trauere ich einer Vorsichtsmaßnahme nach, «oder wenigstens falsche Bärte. Aber jetzt kann jeder unser Gesicht sehen.»

      «Und wenn schon», sagt Pergynti ungeduldig, weil ihn mein Gejammer sichtlich nervt, «niemand kann unseren Gesichtern Namen zuordnen.»

      «Deinem vielleicht nicht», lamentiere ich weiter, «aber von mir hängen immer Plakate herum, wenn ich Lesungen mache.»

      «Du bist nur am Ufer herumgehockt», erklärt Pergynti. «Von dir gibt es definitiv kein Foto mit einem Fisch in der Hand.»

      «Aber von dir schon, oder?»

      «Ja», sagt er, «und dieses Foto wird soeben dem Schweizer Polizeipräsidenten ausgehändigt, der die Armee in Alarmbereitschaft versetzt.»

      Pergyntis Humor war schon immer rabenschwarz. Er fragt auch Menschen, die von sich behaupten, dass ihnen etwas die Haare aufstellt, eiskalt danach, ob es ihnen alle Haare aufstellt, auch die unterhalb der Taille. Dann, noch in der Schrecksekunde, lacht er lauthals los. Genau das passiert auch jetzt. Während er sich amüsiert, denke ich an die Person, die ihn womöglich fotografiert hat. Wer ist dieser Jemand? Ist er schon wieder verschwunden, oder klebt er noch immer an unsere Fersen, so lange, bis er entdeckt, wer ich bin und wo ich wohne?

      «Aber wie war das möglich, dass der uns überhaupt gesehen hat, in dem Dickicht?», will ich wissen.

      «Da war eine schmale Schneise», antwortet Pergynti. «Am anderen Ufer zwischen den Bäumen. Von dort siehst du auf die Stelle, wo wir gefischt haben.»

      «Und was machen wir jetzt?»

      «Weiterfischen», schlägt er unbeeindruckt vor, «es läuft doch gut. Wo ist denn die nächste schöne Stelle? Du hast doch sicher schon ausgekundschaftet, wo sich noch ein paar große Forellen verstecken …»

      NOVEMBER

       Der mit dem Floh tanzt

      Wie ein Huhn, das zuerst mit vorgeschobenem Kopf das Terrain erkundet, ruckelt unser Zug über die Gleise. Die Lokomotive scheint sich zu fragen, ob sie der hohen Brücke vor dem Berner Bahnhof unser Gewicht zumuten kann. Tief unter uns hat sich die Aare gehäutet. Ihre absinthgrüne Glashaut liegt reglos am Boden der Schlucht und glitzert in den spätherbstlichen Sonnenstrahlen. Während der Zug über den Viadukt kriecht, erscheint auf der anderen Talseite eine befremdliche Fata Morgana. Schartige Torbögen, bröckelnde Mauern und eine Flut greller Zeichen, die wahnsinnig gerne schreien würden, wären sie nicht zurückgebunden an eine stumme Substanz aus Lack und Öl. In ihrer Rätselhaftigkeit erinnern mich die Symbole an einen alten Fruchtbarkeitskult. Eine riesige Halle, ebenfalls schrill bepinselt, thront wie ein steinernes Zelt auf einem weitläufigen Platz, wo Menschen wie Kaulquappen herumwuseln und sich zwischen unzähligen Waren um schmale Tischchen drängen.

      «Flohmarkt», spreche ich das magische Wort aus. Wenn das kein Wunder ist. Ich komme erst zum zweiten Mal in meinem Leben nach Bern und schon veranstaltet die Stadt mir zu Ehren mein Lieblingsfest.

      «Grüezi wohl», sage ich zu einem spätmittelalten Mann in einem Lederwams, der hinter einem vollbeladenen Tapeziertisch steht und seit den frühen Morgenstunden bestimmt nur auf mich gewartet hat, «was kosten?»

      Ich zeige auf eine alte Ledertasche, deren Oberfläche mit Narben und Schnitten übersät ist.

      «Sechzig», sagt er schonungslos.

      «Dreißig», halbiere ich automatisch.

      Statt in das Gesicht eines Schweizer Flohmarkthändlers blicke ich plötzlich in die verdüsterte Miene eines russischen Waffenexporteurs. Jetzt ist er extra mit seinem Privatjet aus Wladiwostok hierher nach Bern geflogen. Man stelle sich diesen ganzen Riesenaufwand vor. Und dann steht vor ihm ein knausriger Lurch wie ich, der die Bezeichnung Kunde gar nicht verdient, weil er viel zu einfältig ist, um den Wert der hier dargebotenen Ware auch nur ansatzweise zu erkennen. Stante pede kehrt er um zu seinem Privatjet, steigt ein, fliegt weg und lässt mich genauso kommentarlos stehen wie ich seine Tasche.

      Phase eins der Eröffnung. Jeder Spieler hat eine Figur ins Feld geschickt. Später werde ich wiederkommen und mit «fünfunddreißig» den zweiten Zug machen. Aber noch umgibt den Händler die trügerische Kraft der morgendlichen Hoffnung auf bessere Geschäfte.

      Es riecht nach Thermoskannenkaffee, Schweiß, Hausnischenurin und lange nicht benutzten, schläfrigen Dingen, die eine Aura nach dunklen, mit Stille und Resignation gesättigten Kammern verströmen. Unweigerlich nehme ich den weichgespülten Schlenderrhythmus einer Schildkröte an. Was mir heute auch deshalb erstaunlich leicht fällt, weil ich vor ein paar Tagen Zeuge eines Radioaufrufs wurde, man möge bitte – bei Sichtung! – eine Schildkröte zurückbringen, die in Aarwangen entlaufen war. Ich fühlte mich sofort persönlich angesprochen. Erstens liegt Aarwangen in Marschnähe von Langenthal, zweitens habe ich viel investigative Zeit und drittens empfinde ich den Schweizern gegenüber eine gewisse Bringschuld, die mit einer Schildkrötenzurückbringung zumindest teilweise getilgt wäre.

      Außerdem frage ich mich seither, ob das Wort entlaufen überhaupt schildkrötenkonform ist? Wäre es nicht besser, weil tierartgerechter, in diesem speziellen Fall von einem Entgehen zu sprechen oder von einem Entkrabbeln?

      Vor dem Stand eines jungen Mannes weiß ich plötzlich, was ich ganz dringend brauche. Er verkauft DVDs zu einem für schweizerische Verhältnisse sagenhaft günstigen Preis. Ein Franken pro Stück. Der Zulauf zu seinen Produkten ist entsprechend groß. Irgendwann gelingt es mir, mich an eine seiner mit DVDs vollgestopften Kisten heranzuquetschen und mich in dieser Position festzukrallen. Das ist deshalb notwendig, weil hier ständig angewinkelte Ellbogen und versteifte Hüfthügel durch das Gedränge pflügen und die Standfestigkeit der Menschen testen, die versuchen, innezuhalten und durchzuatmen.

      «Was für eine coole Auswahl an coolen Filmen», lobe ich die Produktpalette laut und überschwänglich, was aber von niemandem wahrgenommen wird. Alle sind ausreichend mit sich beschäftigt und mit ihrer Sehnsucht, Schnäppchen zu machen. Wir wollen Dinge kriegen, die weniger kosten, als sie wert sind. Plötzlich frage ich mich, ob es solche Dinge überhaupt gibt. Würde ein Auto in der Anschaffung nur einen Cent kosten, würde ich noch immer einen ganzen Tag pro Woche nur dafür arbeiten, um mir seine Erhaltung zu leisten. Manchmal träume ich mich autolos. In diesen Träumen habe ich ein Pferd, mit dem ich in die Musikschule reite. Seine Zügel befestige ich an der Ballettstange im Tanzraum. Phoebe, die gleichzeitig meine beste Freundin und unsere Tanzlehrerin ist, würde es sofort beim Steppen mitmachen lassen.

      «Hätscht du a Sackeli für mich?», rufe ich dem jungen Mann zu, der auf der anderen Seite des Tisches herumhantiert. Mittlerweile habe ich zwölf Filme beisammen. Vor lauter Euphorie über das bevorstehende gute Geschäft habe ich meinen ersten Versuch unternommen, mich in der Landessprache Schwyzerdütsch auszudrücken. Immerhin bin ich schon seit gut einem Monat in der Schweiz und habe den Leuten genau zugehört. Im Zweifelsfall hänge ich an kleinere Gegenstände sicherheitshalber immer ein -li. Der Mann erstarrt mitten in seinen hektischen Bewegungen und sieht mich an, als hätte ich ihn um die Spende seiner rechten Niere gebeten. Mein erster Feldversuch, mich den Sitten und Gebräuchen der Berner Bevölkerung anzupassen, scheint grandios zu scheitern. Also schalte ich einen Gang zurück und versuche auf Hochdeutsch zu retten, was zu retten ist. «Ich meine einen Sack, eine Tüte, ein Bag, eine Tragetasche, etwas, wo man diese DVDs hineinstopfen kann, um sie zu befördern. Ich bin nämlich aus Österreich und hab keine Ahnung, wie ihr das nennt, was ich meine.»

      «Isch der liab! Isch der luschtig!», ruft plötzlich eine andere Kundin des Händlers und schlägt die Hände über den Kopf. Sie lacht, schüttelt sich und fängt beinahe an zu tanzen in ihrem Frohsinn. Was in der Menschenmenge natürlich nur eingeschränkt möglich ist. Immerhin tanzen das Rot ihres Kleides und das Violett ihrer Jacke miteinander. Ihr Begleiter, ein bärtiger Riese in einem Rübezahlwams und weit wallender Dürerfrisur, interpretiert mein Staunen als Hilfeschrei und