Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

Читать онлайн.
Название Gesammelte Werke von Joseph Roth
Автор произведения Йозеф Рот
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027210305



Скачать книгу

zur Fensterscheibe.

      Ich sehe ihn zum letztenmal, dachte Friedrich.

      Seine Gedanken, die er schon dem Tod entgegengerichtet hatte, machten plötzlich kehrt.

      »Sie wissen nicht, Sie wissen nicht«, sagte Grünhut. »Sie sind jung. Glauben Sie vielleicht, daß Sie noch zweimal in die Lage kommen werden zu sagen: Ich fahre weit weg? Glauben Sie, das Leben ist unendlich? Es ist kurz und hat ein paar armselige Situationen zu verschenken, und die muß man zu schätzen wissen. Zweimal können Sie sagen:

      Ich will, einmal: Ich liebe, zweimal: Ich werde, einmal: Ich sterbe. Das ist alles. Sehn Sie mich an. Ich bin gewiß kein beneidenswerter Mann. Aber ich will nicht sterben. Ich kann vielleicht doch noch einmal sagen: Ich will, oder: Ich werde. Keine große Aussicht vorhanden, aber ich warte. Ich will für niemanden und für nichts leiden. Der winzige Schmerz, den Sie fühlen, wenn Sie sich in den Finger stechen, ist immer noch gewaltig im Verhältnis zu der Kürze Ihres Lebens. Ja, und zu denken, daß es Menschen gibt, die sich die Hand abhacken lassen und sich die Augen ausstechen lassen für eine Idee, für eine Idee! Für die Menschheit, im Namen der Freiheit. Es ist entsetzlich.

      Ich verstehe schon, daß Sie nicht zurückkönnen. Man begeht irgendeine Tat, man muß sie einfach begehn. Dann macht man uns verantwortlich, man gibt uns eine Order für eine sogenannte Heldentat, und man wirft uns in den Kerker für ein sogenanntes Verbrechen. Wir können nichts verantworten. Wir sind höchstens verantwortlich für das, was wir unterlassen. Wollte man uns dafür zur Verantwortung ziehn, so bekämen wir hundertmal am Tag Hiebe und säßen hundertmal im Kerker und würden hundertmal aufgehängt.«

      Er ging wieder zur Fensterscheibe. Und den Rücken zu Friedrich gewendet, sagte er ganz leise: »Also gehn Sie, und kommen Sie zurück. Ich habe schon manchen gehn gesehn.«

      Im Nebenzimmer bei der Frau Tarka hörte man plötzlich Stimmen.

      »Still«, flüsterte Grünhut, »bleiben Sie ganz still sitzen. Eine neue Kundschaft. Gestern war der Maler hier. Ich wußte schon, daß heute jemand kommen würde. Bleibt nicht lang. Erste Konsultation. Bleiben Sie hier, bis sie fort ist.«

      Bald hörte man die Tür. »Schnell, ehe die Madame hereinkommt«, sagte Grünhut. Ein flüchtiges Handschütteln, als hätte Grünhut vergessen, daß es ein Abschied für immer war.

      XIII

       Inhaltsverzeichnis

      Zwei Tage später saß er beim alten Parthagener in der Herberge »Zur Kugel am Bein«. Es hatte sich nichts verändert. Kapturak brachte immer noch Deserteure. Man trank Schnaps und aß gesalzene Erbsen. Bei Chajkin versammelten sich die Rebellen. Der Jurist hoffte immer noch, Abgeordneter zu werden.

      Kapturak kam am nächsten Morgen. »Sie sind also nicht Bezirkshauptmann geworden. Ja, wir fahren schon. Die Koffer nehme ich mit. Erwarten Sie sie in der Grenzschenke.« Es war Feiertag, die Beamten von der Grenze saßen schon mit den geflüchteten Soldaten, tranken und sangen. Hinter der Theke der Wirt mit offenem Mund und glotzenden Augen.

      Friedrich trat hinaus. Die feuchten Sterne glitzerten. Ein Wind zog sacht dahin. Man roch die weite Ebene, aus der er kam.

      Ein kleiner, rundlicher Mann mit einem schwarzen Bärtchen stand plötzlich neben Friedrich.

      »Schöne Nacht«, sagte er, »nicht wahr?«

      »Ja«, sagte Friedrich, »eine schöne Nacht.«

      »Ich verhafte Sie, mein lieber Kargan«, sagte der Mann freundlich. Er hatte eine rundliche, weiße, fast weibliche Hand mit kurzen Fingern.

      »Pascholl!« kommandierte er.

      Zwei Männer, die plötzlich zum Vorschein kamen, nahmen Friedrich in die Mitte.

      Er fühlte nur den Wind wie einen Trost aus der unermeßlichen Ferne.

      Zweites Buch

       Inhaltsverzeichnis

      I

       Inhaltsverzeichnis

      Es war Abend. Das Wasser plätscherte leise und zärtlich um den Dampfer, der auf der Wolga dahinschwamm. Im Zwischendeck hörte man das harte, regelmäßige Stampfen der Maschinen. Die schaukelnden Laternen wischten Lichter und Schatten über die zweihundert Menschen, die sich hier niedergelassen hatten, jeder auf dem Platz, wo er zufällig stehengeblieben war, als er das Schiff betreten hatte. An den stillen Stationen schwiegen die Maschinen, und man hörte die tiefen Rufe der Schiffer, der Lastträger und den schnalzenden Anschlag des Wassers an Holz.

      Die meisten Gefangenen lagen ausgestreckt auf dem Boden. Hundertzwanzig von den zweihundert Passagieren des Zwischendecks waren gefesselt. Sie trugen Ketten an den Gelenken der rechten Hand und des rechten Fußes. Die nicht Gefesselten sahen neben den Geketteten fast wie Freie aus. Manchmal erschien ein Polizist, ein neugieriger Matrose. Die Gefangenen kümmerten sich weder um ihre Wächter noch um ihre Besucher. Obwohl es ganz früh am Abend war und in einer halben Stunde das Essen verteilt werden sollte, schliefen die meisten, müde von den langen Märschen, die sie bis jetzt zurückgelegt hatten. Der Staat führte sie auf dem billigen und langsamen Wasserweg, nachdem er sie lange hatte wandern lassen. Übermorgen sollten sie in Eisenbahnen verfrachtet werden. Sie sammelten einen großen Vorrat an Schlaf.

      Manche unter ihnen kannten sich schon aus. Sie machten diesen Weg nicht zum erstenmal. Sie besaßen Erfahrungen, richteten sich praktisch ein und erteilten den Neulingen Ratschläge. Unter ihren Kameraden erfreuten sie sich einer gewissen Autorität. Mit den Gendarmen verband sie eine Art intimer Feindschaft.

      Man rief sie zum Essen wie zu einer Hinrichtung. Sie stellten sich hintereinander auf, zwischen ihnen klirrten die Ketten. Es sah aus, als wären sie alle an einer einzigen langen aufgeschnürt. Mit regelmäßigem, plätscherndem Aufschlag fiel ein Löffel in den Kessel, dann vernahm man das leise Gurgeln eines leise zurückfließenden Suppenstrahls, dann fiel eine feuchte Masse auf hartes Blech. Schwere Füße scharrten, eine Kette schlürfte klirrend, und immer wieder löste sich aus der Reihe ein anderer, als wäre er abgefädelt worden. Der niedrige Raum erfüllte sich mit dem Dampf, der aus zweihundert Blechgeschirren und Mündern stieg. Alle aßen. Und obwohl sie selbst die Löffel zu den Lippen führten, sah es aus, als würden sie von fremden Armen gefüttert, die nicht zu ihren Körpern gehörten. Ihre Augen, die weit früher gesättigt waren als ihre Eingeweide, hatten schon den stieren Blick der Sattheit, der auch die Hausväter am Familientisch kennzeichnet, jenen Blick, der schon in die Gefilde des Schlafes vordringt.

      »Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.«

      »Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.«

      Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab.

      »Gute Nacht«, sagte Berzejew.

      Draußen wurde die Wache abgelöst.