Название | Gesammelte Werke von Joseph Roth |
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Автор произведения | Йозеф Рот |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027210305 |
In den Monaten Februar, März, April arbeitet er. Im Mai sitzt er mit einem Päckchen unverzollter Ware am hellichten Tag im Zug, täuscht bei der Revision einen Fluchtversuch vor und läßt sich einfangen. Manchmal gestattet er sich einen Urlaub und fährt nach Karlsbad seinen Magen kurieren.
Mit ihm arbeitet die Familie Parthagener. Am Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, bringt er seine Schutzbefohlenen in die Herberge »Zur Kugel am Bein«. Sie erlegen für drei Tage Kost und Quartier im voraus. Hierauf erscheint ein junger Parthagener mit Prospekten.
Von Zeit zu Zeit aber muß jemand von der Agentur eine Nacht vorher über die Grenze, eine sogenannte »Stichprobe« machen. Denn es ereignet sich manchmal, daß Kapturak seine Flüchtlinge über eine andere Stadt, zu anderen Parthageners, in andere Herbergen führt, anderen Filialen in die Arme. Man muß ihn also noch auf russischem Gebiet in der sogenannten »Grenzschenke« überraschen.
Friedrich kam an einem sonnigen Märztag des Jahres 1908 zu den Parthageners. Es tropfte gleichmäßig und fröhlich von den Eiszapfen an der Dachrinne. Der Himmel war hellblau. Der alte Parthagener saß vor der Tür seiner Herberge. Eine dunkelgraue, schmutzige Kruste lag über den großen Schneehaufen zu beiden Seiten der Landstraße. Der Winter fing an zu verwesen.
Friedrich war jung genug, um alle Vorgänge der Natur zu vermerken und in eine Beziehung zu seinen Erlebnissen zu bringen. Er trank das besondere Licht des Tages. Es war stark wie der warme, junge Südwestwind, das Dunkel des schiefen Tors und die silberne Würde des Alten.
»Er kann nächste Woche gleich eine ›Partie‹ übernehmen!« sagte der Alte zu seinen Söhnen, die mit weißen, strahlenden Marinemützen am offenen Fenster standen.
»Treten Sie ein!« sagte er dann zu Friedrich, »und trinken Sie etwas!« Von nun an blieb Friedrich in der Herberge »Zur Kugel am Bein«.
III
Eine Woche später schickte man ihn in die »Grenzschenke«, eine »Partie« übernehmen. Der Zug war um elf Uhr nachts angekommen, die Grenze überschritt man erst um drei Uhr morgens. Vier Deserteure schliefen nebeneinander, eine liegende Doppelreihe, auf dem Fußboden, die Köpfe auf ihren Bündeln. Hinter der Theke saß der taubstumme Wirt. Er riß die Augen weit auf, weil sie ihm die Ohren ersetzten und er mit ihnen hören konnte. Aber jetzt gab es nichts zu hören. Kapturak war in einem Sessel eingenickt. An der Tür lehnte drohend und hager der schwarze Kaukasier Savelli. Er wollte sich nicht setzen, er fürchtete einzuschlafen. Er traute Kapturak nicht. Die Regierung wäre bereit gewesen, einen hohen Preis für Savelli zu zahlen. Wer weiß, ob Kapturak nicht die Absicht hatte, ihn auszuliefern.
Die Abenteuerlichkeit dieser nächtlichen Stunde genoß kein anderer außer Friedrich. Den Leuten, die sich seit Jahren mit dem Schmuggel befaßten, war sie gewohnt und gewöhnlich. Die Deserteure, die jetzt die Müdigkeit überwältigt hatte, erinnerten sich erst nach langen Jahren und in fernen Länden an die Unheimlichkeit dieses Orts zwischen dem Tod und der Freiheit und an die Stelle der kreisrunden Nacht, in deren Mitte nur diese eine Schenke beleuchtet war, der helle Kern einer großen Finsternis. Nur Friedrich lauschte dem regelmäßigen, langsamen Schlag einer Uhr, die ihre eigenen Sekunden zählte, als bestünde die Zeit aus den kostspieligen Tropfen eines edlen und seltenen Metalls. Er allein betrachtete die großen und trägen Fliegen an der breiten Petroleumlampe, deren Docht bis auf einen schmalen Saum herabgedreht war und deren breiter Schirm aus braunem Karton die obere Hälfte des Zimmers verdunkelte. Und er allein empfand den fernen Pfiff einer Lokomotive, der durch die Nacht erscholl, wie den ängstlichen Hilferuf eines Menschen.
Gegen zwei Uhr morgens ertönte ein anderer Pfiff, ein abgebrochener, furchtsam unterdrückter. Kapturak hörte ihn. Er sprang auf und weckte die Schlafenden. Jeder nahm sein Bündel auf den Rücken. Sie gingen hinaus. Die Nacht war trüb und feucht, der Boden naß. Man hörte die Schritte jedes einzelnen. Sie gingen durch einen Wald. Kapturak blieb stehen. »Niederlegen!« flüsterte er, und alle legten sich leise hin. Ein Zweig knackte.
Nach einer Weile sprang Kapturak auf und fing an zu laufen. »Mir nach!« schrie er. Hinter ihm sprangen alle über einen Graben. Sie liefen noch bis an den Rand des Waldes. Hinter ihnen knallte ein Schuß und verhallte mit langem Echo.
Sie waren außerhalb des Landes. Die Männer gingen langsam, schweigend, schwer. Man hörte den Atem eines jeden. Friedrich konnte sie nicht sehen, aber er erinnerte sich gut an ihre Gesichter, einfache, stumpfnasige Bauerngesichter, Augen unter winzigen Stirnen, massive Rümpfe und schwere Gliedmaßen.
Er liebte sie, denn er fühlte ihr Unglück. Er dachte an die unzähligen Grenzen des riesigen Reiches. In dieser Nacht wanderten Hunderttausende aus, sie gingen aus dem Unglück ins Unglück. Die unermeßliche, schweigende Nacht war von flüchtenden Menschen bevölkert, stumpfe, arme Gesichter, massive Rümpfe, schwere Gliedmaßen.
Im Osten begann es hell zu werden. Wie auf einen Befehl blieben plötzlich alle stehen und wandten sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als wäre die Nacht, die sie verließen, ihre Heimat gewesen und der Morgen erst die Grenze. Sie blieben stehen und nahmen Abschied von der Heimat, von einem Hof, von einem Tier, einer Mutter, der von hundert Desjatinen und jener von einem einzigen Streifen Acker, vom Schlag einer bestimmten Glocke. Sie standen da, als handelten sie nach einem Ritus. Auf einmal stimmte Savelli mit einer harten, klaren Stimme ein Soldatenlied an. Alle fielen ein und sangen mit. Sie hatten noch eine gute Stunde bis zur Herberge Parthageners.
IV
»Das ist wahrscheinlich sein Lobgesang«, sagte Kapturak ziemlich laut zu Friedrich. Savelli hörte es, obwohl alle sangen, und antwortete: »Von uns beiden sind Sie es, Kapturak, der einen Lobgesang zu singen hätte! Danken Sie Gott, daß Sie mich nicht ausgeliefert haben. Ich hätte Sie getötet.«
»Ich weiß«, sagte Kapturak, »und ich wäre nicht der erste und nicht der letzte gewesen. Ist es wahr, daß Sie Kalaschwili umgebracht haben?«
»Ich war dabei«, erwiderte Savelli. Es klang rätselhaft. Savelli sah aber nicht so aus, als wäre ihm daran gelegen, etwas zu verheimlichen.
»Ich habe ihn«, fuhr er fort, »sterben gesehn. Ich dachte nicht einen Augenblick, daß er auch ein privates Leben hatte, außer seinem polizeilichen. Er hätte ohnedies nicht mehr ruhig gelebt. Ich glaube nicht an die Ruhe eines Verräters.«
»Sie haben ihn sicherlich gehaßt?« wagte Friedrich zu sagen.
»Nein!« erwiderte Savelli. »Ich habe keinen Haß gefühlt. Man kann, glaube ich, nur hassen, wenn man von einem ein persönliches Leid erfahren hat. Aber dazu bin ich nicht imstande. Ich bin ein Werkzeug. Man bedient sich meines Kopfes, meiner Hände, meines Temperaments. Mein Leben gehört mir nicht. Ich gehöre mir nicht mehr. Ich müßte die Rechte überschreiten, die einem Werkzeug zugemessen sind, wenn ich ihn hassen wollte. Oder auch lieben!«
»Aber sie lieben doch?«
»Was?«
»Ich meine«, antwortete Friedrich langsam, denn er schämte sich, ein großes Wort zu gebrauchen, »die Idee, die Revolution.«
»Ich arbeite seit acht Jahren für sie«, sagte Savelli leise, »und kann nicht aufrichtig sagen, ob ich sie liebe. Kann ich denn etwas lieben, was um so viel größer ist als ich?
Ich verstehe nicht,