Название | Gesammelte Werke von Joseph Roth |
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Автор произведения | Йозеф Рот |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027210305 |
»Sie waren natürlich eingerückt.«
»Elfer-Dragoner!« triumphierte Paul.
Also verarmte Familie, replizierte in Gedanken der Onkel. Und laut bemerkte er: »Die Inflation und der Krieg haben doch eine Menge Familien ruiniert. Es ist so manche auf einmal Mittelstand geworden. Unsereins hat oft Gelegenheit zu sehen, wie traurig es mit der Intelligenz bestellt ist.«
»Viele sind auch reich geworden«, sagte Paul.
»Ja, die Neureichen.« Der Onkel sprach dieses Wort mehr mit den Mundwinkeln als mit der Zunge. Es genügte, von den neuen Reichen etwas zu erwähnen, und sofort geriet Herr Enders in schlechte Laune. Nach der Art aller Menschen, deren Großväter schon »neue Reiche« gewesen waren, schätzte er alle gering, die erst heute reich wurden. Von seinem Großvater, dem Begründer der chemischen Dynastie Enders, sprach er als von dem »Manne, der mit den zehn Fingern anfing«. Jene, die heute ähnliches vollbrachten, nannte Carl Enders »die mit den Ellenbogen«. Als wäre ein Ellenbogen ein verächtlicher Körperteil und die Finger aristokratisch. Um der Meinung des Industriellen würdig zu sein, begann Paul, eine von den Anekdoten vorzutragen, deren Held in jener Zeit der populäre Raffke war und die immer mit dem Satz begannen: Herr Raffke kommt zur Neunten Symphonie oder zu »Wallenstein« ins Staatstheater oder sonst zu irgendeiner der Kultureinrichtungen, in denen die alten Reichen sich so gut auskennen. Herr Enders liebte Anekdoten wie die meisten gesunden Männer. Er konnte bei jedem Witz ehrlich lachen, weil er vergeßlich war und es ihm gar nichts ausmachte, ihn zehnmal zu hören.
Irmgard schwieg beleidigt. Um ihre Sympathie für Paul nicht zu verlieren, die jetzt ein Bestandteil ihrer Selbstliebe geworden war, verwandelte sie die Geringschätzung für die Billigkeit seiner Witze in eine Bewunderung für seine Fähigkeit, sich mit dem Onkel zu unterhalten. Herr Enders schied mit dem Verdacht, daß Paul Bernheim zu der armen Intelligenz gehöre. Immerhin lud er den amüsanten jungen Mann nach D. ein, einer Stadt im Rheingebiet, in das Stammhaus Enders. Paul sollte nach einer Woche nach D. kommen. Es war ihm klar, daß er innerhalb dieser Woche eine Stellung haben müßte und keine beliebige. An Brandeis hätte er sich halten sollen!
Es war Paul Bernheim vollkommen klar, daß er jetzt vor dem Ziel stand. Er konnte freilich zu Brandeis gehn. Zu Brandeis gehn und was sonst? Die zweitausend Dollar zurückzahlen und von einem Gespräch alles erhoffen. Vielleicht machte ihm Brandeis einen Vorschlag.
Zum erstenmal nach langer Zeit stand Paul Bernheim wieder am frühen Vormittag auf. Es war ein Donnerstag, sein »guter Tag«. Er glaubte sich zu erinnern, daß ihm der Donnerstag immer Glück gebracht hatte. In der Schule schon. Die Gegenstände, die ihm am liebsten waren, fielen auf den Donnerstag. Die Reifeprüfung hatte er an einem Donnerstag bestanden, und nach Oxford war er am Donnerstag gefahren. Und heute war Donnerstag.
Auch die Sonne schien. Kein Wölkchen am Himmel. Kein Staub. Kein Wind. Die Taxis an der Haltestelle alle offen. Er wollte ein Taxi nehmen, um nicht im Gedränge der Untergrundbahn die notwendige Energie zu verlieren. Er stieg ein wie zu einer Fahrt ins Glück.
Aber in der Köpenicker Straße, vor dem massiven Häuserblock, in dem sich seit einigen Monaten Brandeis’ Firma befand, ergriff Paul Bernheim Angst, Angst, wie er sie noch nie gespürt hatte. Wenn er jetzt nichts erreichte, so wollte er nicht einmal nach D. fahren. Er überlegte die Ausrede, die er Irmgard mitteilen würde. Diesen Brief jetzt schon zu stilisieren bereitete ihm eine Erleichterung. Es lenkte ihn von dem Gedanken an die nächste Viertelstunde ab. Er versenkte sich in die Vorstellung von seinem vollständigen Zusammenbruch, um den Zustand der weniger erträglichen Angst vor dem Zusammenbruch leichter zu ertragen.
Er lehnte es ab, in den Lift zu steigen, in den ihn der Portier einlud. Er ging langsam die Stufen hinauf und zählte sie. Sie sollten eine gerade Zahl ergeben, dann wäre alles gut. Als er im ersten Stock stand, hatten sie eine ungerade. Seine Füße stockten. Zum Glück besagte eine Tafel, daß sich die Direktion im zweiten Stock befand. Aus Furcht, daß die Zahl der Stufen noch einmal eine ungerade sein könnte, gab er das Zählen auf.
Er mußte durch einen großen, unheimlich sonnigen Saal, in dem an etwa hundert Schreibtischen gearbeitet wurde. Ein Arbeitssaal nach amerikanischem Muster. An allen vier Wänden riesige elektrische Wanduhren wie in Bahnhöfen. Ein regelmäßiges Rascheln von Papier. Ein halblautes Klappern moderner, schweigsamer Schreibmaschinen. Ein Flüstern, das vom Rechnen der gebeugten jungen Männer herrührte, die unaufhörlich Zahlen hinschrieben und mit Linealen hantierten. Die Wände kahl, die Fenster groß, nackt, ohne Vorhänge. Brandeis liebte es, seine Besucher durch dieses Zimmer führen zu lassen.
Paul Bernheim machte sich auf eine der »wichtigen Konferenzen« gefaßt. Hier gilt es, eine Stunde oder zwei zu warten. Um so besser. Ich habe Zeit, mich zu beruhigen.
Aber schon ein paar Minuten später holte man ihn zu Brandeis.
Brandeis saß in einem kleinen, verdunkelten Raum. Die Besucher, die aus der schmerzlichen Helligkeit kamen, sahen im ersten Augenblick gar nichts. Er holte aus dem Wandschrank Kognak und zwei Gläser, Zigarren, Zigaretten, Streichhölzer. Er stellte alles mit behutsamen Bewegungen vor Bernheim hin, lautlos, als wären seine großen, kräftigen und behaarten Hände, die Tischplatte, die Flasche, die Gläser und die Schachteln aus Samt.
Er goß zwei Gläser voll.
Bernheim trank mit einem Schluck. Er ärgerte sich, daß Brandeis nur nippte.
»Ich trinke sehr langsam«, sagte Brandeis.
»Ich habe eine alte Schuld«, begann Paul.
»Die Summe ist so gering«, unterbrach Brandeis, »daß es eine Verschwendung wäre, von ihr zu sprechen. Ich muß Sie um Entschuldigung bitten. Ich hätte Sie besuchen sollen. Sie könnten geglaubt haben, daß ich absichtlich eine Begegnung mit Ihnen vermeiden will. Durchaus nicht! Es ist inzwischen die Notwendigkeit eingetreten, den Umfang meiner Geschäfte zu regeln und zu erweitern. Ich war besetzt. Ich freue mich über Ihren Besuch. Aber ich hoffe, daß Sie ihn nicht jener Summe wegen gemacht haben.«
»Nein, Herr Brandeis. Offen gestanden: Ich bin mit einer Bitte gekommen.«
»Das ehrt mich.«
Eine lange Pause folgte. Keiner von beiden rührte sich. Man hörte aus der Ferne einen Vogel zwitschern. Pauls Augen hatten sich an den Dämmer dieses Zimmers gewöhnt. Er unterschied die dunkelrote Farbe der Teppiche und die rostbraune Täfelung der Tür zu seiner Linken. Es war nicht jene, durch die er gekommen war. Die Dämmerung kam von den dunklen Rolläden hinter den Fenstern, die dennoch offenstanden. Ein zarter Wind wehte durchs Zimmer.
Es schien unmöglich, jetzt wieder anzufangen. Brandeis griff nach der Flasche, um einzuschenken.
»Ich habe den größten Teil meines, unseres Vermögens verloren«, begann Paul wieder. »Ich muß mich nach einer Beschäftigung umsehn. Ich besitze nicht mehr als fünfundzwanzigtausend Mark.«
»Die Summe ist nicht klein –«, sagte Brandeis. »Aber schließlich, wie man es betrachtet. Sie kann groß und klein sein. Für Sie ist sie wahrscheinlich klein. Ich könnte Ihnen vielleicht den Rat geben, einen Rat geben –«
»Nein, Herr Brandeis, es ist zu spät. Ich muß in dieser Woche auf eine Stellung, auf einen Namen, eine Position rechnen können.«
Brandeis nippte noch einmal. Dann sah er in das Gläschen. Und als hätte er daraus die Zukunft gelesen, fragte er langsam:
»Sie wollen wahrscheinlich heiraten?« Er sprach dieses Wort sehr weich aus, mit einem h, das wie ein voller Konsonant klang.
Paul nickte.
»Gut, Herr Bernheim, ich will mich umsehn.«
Paul erhob sich. Brandeis begleitete ihn zur Tür. Er streckte die Hand aus.
»Kann ich den Namen der Dame wissen?«
»Ich bin noch nicht verlobt«, sagte Paul zögernd. Er fürchtete, die Hand aus der weichen, warmen Umklammerung Brandeis’ zu befreien.
»Aber ich bitte Sie um Diskretion. Ich möchte mich um Fräulein Enders bemühen.«