Название | Gesammelte Werke von Joseph Roth |
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Автор произведения | Йозеф Рот |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027210305 |
Doktor König trug aus Opposition keinen Smoking, sondern nur einen schwarzen Anzug: als wäre ein schwarzer Anzug eine Herausforderung der kapitalistischen Gesellschaft. Er wußte nicht, daß er den englischsten aller Smokings zur besten Geltung brachte und daß er Paul gekränkt hätte, wenn er ebenfalls im Smoking erschienen wäre. In Doktor König ging nach dem dritten Glas Wein eine Revolution vor, mit der verglichen die russische ein Kinderspiel gewesen war. Doktor König sah sich an der Macht, er überlegte, wie er, ohne sein Gewissen zu beschädigen, dem armen, enteigneten, zum Straßenkehrer begnadigten Paul Bernheim eine Protektion angedeihen lassen könnte. Er hörte aus einer meilenweiten Ferne Pauls lange Erklärungen. Rede du nur! dachte König, während Paul verliebt in seinen Smoking, seine Hände, seine Stimme, Wunder von der Börse erzählte. »Das ist mein Gebiet«, sagte er, »ich fühle mich dort wie Sie in den Volksversammlungen. Ich liebe dieses unmenschliche Gewirr, Stimmen von Insekten, nicht von Menschen. Die schwarzen Tafeln, den schnellen Schwamm, der alles auslöscht, und die noch schnellere Kreide, die neue Zahlen hinschreibt. Ja, ja, ich liebe das: ans Telephon zu gehen und zu zittern, daß die Verbindung mit meinem Sekretär nur schnell hergestellt wird. Ich telephoniere, eile zurück, und die neuen Ziffern geben mir recht. Nase muß man haben! Schnell ein Gespräch mit der Bank, und dann vor dem Nachtmahl zur Erholung im offenen Wagen achtzig Kilometer die Straßen verschlingen. Das ist Leben.«
»Sagen Sie mir lieber«, meinte Doktor König, der jetzt Paul Bernheim für alkoholisiert hielt und die Hoffnung hegte, etwas »wirklich« zu erfahren, »was halten Sie vom Ruhrgebiet?«
»Nach meinen Erfahrungen«, erklärte Bernheim, der den Revolutionär nicht enttäuschen wollte, »nach all dem, was ich von meinen Freunden höre, ist es eine große Dummheit von beiden Seiten. Frankreich ist noch schlimmer daran als wir, und uns geht es auch nicht gut. Was wollen Sie? Solange die dummen Politiker à la 1900 nicht ihr Geschäft den Führern der Wirtschaft überlassen, wird es in Europa schlimm sein. Darin, glaub’ ich, stimmen wir überein: daß die Wirtschaft die Politik regiert.« Und um auch die Kenntnis des internationalen Lebens außerhalb des Kontinents zu beweisen, fügte Paul hinzu: »In England weiß man das längst.«
»Sie kennen ja England gut!« bemerkte Doktor König, um gefällig zu sein.
Da Paul schon das sechste Glas getrunken hatte, zögerte er nicht, zu sagen: »Meine zweite Heimat. Sie wissen, daß ich den wichtigsten Teil meiner Erziehung Oxford zu verdanken habe. Es war eine schöne Zeit, der Krieg hat sie unterbrochen«, Paul hatte in der Tat vergessen, daß er noch vor dem Krieg zurückgekehrt war, »ich möchte gerne wieder zurück, ehe es überhaupt zu spät wird. Werden Sie mir glauben, lieber Herr Doktor König, Sie kennen mich doch, Sie wissen von meinen geistigen Interessen, aber ich bin auf nichts so stolz wie auf die zwei Ruderpreise, die ich in Oxford bekommen habe. Wenn Sie nächstens bei mir sind, zeige ich Ihnen die Pokale.«
Das Zahlen war Paul von allen Zeremonien des Restaurants die liebste! Er liebte den diskreten Wink, den er dem Kellner gab, das gefaltete Blatt, das wie ein Geheimnis vor ihn hingelegt wurde. Manchmal hielt er es für vornehm, die Rechnung zu kontrollieren. Manchmal begnügte er sich mit einem leichten Blick auf die Summe. Noch mit dem Rückgrat maß er die Tiefe der Verbeugung hinter seinem Sitz, er beantwortete keinen Gruß, im Gegensatz zu Doktor König, der als ein Mann aus dem Volke allen »Gute Nacht!« sagte, bieder und klassenbewußt.
Aber draußen, wenn die Kälte ihn wieder ernüchterte, bekam Bernheim Angst vor den eigenen Worten, die er drinnen gesagt hatte. Er klammerte sich schweigsam an Doktor König. Er schlug noch einen Besuch im Spielklub vor. Er versuchte, mit beklommenem Herzen einen Scherz zu machen, immer noch liebenswürdiger, heiterer, sorgloser, weltmännischer Gastgeber zu sein. Aber schon überlegte er: Ich werde noch auf diesen verdammten Brandeis hereinfallen. Geld muß man haben, reich muß man werden, vielleicht gewinne ich. Ja, er glaubte im Ernst, daß er eines Tages im Spielklub gewinnen würde. Während er dem blassen und schmalen und blaugefrorenen Aufpasser an der Ecke winkte, schöpfte er neuen Lebensmut. Der Anblick dieses armseligen Mannes war herzerfrischend. An dem schmalen Pelzkragen, dessen Haare ausgefallen waren und gelbe, harte, nackte Ledernarben frei ließ, an den dünnen Beinen in den viel zu kurzen Hosen, den Stiefeln, die vor Kälte aneinanderschlugen mit der Schnelligkeit klappernder Zähne, ermaß Paul Bernheim die ganze Höhe seiner eigenen Situation. Er hörte das leise Kreischen der Tür, die in den geheimnisvollen Flur führte, wie einen Ruf der Zukunft, und er sah die romantische Laterne des Portiers als ein symbolisches Licht – im billigen Sinn dieser alten Wendung. Er gebot der Vernunft, die ihm die Lächerlichkeit der ganzen Maskerade enthüllen wollte, zu schweigen. Er ging dem Glück entgegen. Er wollte nicht geweckt werden.
Aber oben, in den Spielräumen, in denen der Rauch die Wände, die Decken und die Lampen verhüllte und der Geruch eines bürgerlichen Familienlebens, das der Inhaber der Wohnung tagsüber führte, den des nächtlichen Lasters behinderte, verlor Bernheim den Mut zu spielen. Nein, die Karten hatten keine Gewalt über ihn, sie waren ihm hold, aber mit Maß, sie erhielten eine ordentliche, distanzierte Beziehung zu ihm. Obwohl er alle Spielsäle kannte, hatte er sie doch immer wieder vergessen, ehe er sie betrat. Solange er sich noch in der Straße befand, hoffte er, daß sie sich durch ein Wunder seit gestern verwandelt hatten. Mit welcher Leidenschaft hätte er spielen können, wenn statt dieser armen Filmstatisten, Vortragskünstler, Artikelschreiber und anderer Zufallsverdiener lauter reiche Herren an den Tischen säßen wie in England! Hier stürmten ihm bei seinem Eintritt seine Freunde entgegen und baten ihn um Darlehen. Er hatte schon längst die Fähigkeit, mit einer aufrichtigen Stimme die Höhe seiner Barschaft zu verleugnen und über seine vorgetäuschte Ohnmacht so verlegen zu sein, daß man ihm eine wirkliche zutraute. Aber nun konnte er keine hohen Summen setzen – und was er mit den kleinen gewann, verschenkte er in der Runde. Ihn störten die Öldrucke an den Wänden, die Nippessachen in den Glasschränken, die falschen Perserteppiche und die Deckchen auf den Armlehnen der Sessel – alles Einrichtungsgegenstände, die den kleinbürgerlichen Staub der Wohnung, den braven Beruf ihres Mieters und die umgearbeiteten Kleider seiner Frau verrieten. Manchmal stieß man zufällig an eine geschlossene, von einer Portiere verborgene Tür und hörte hinter ihr ein Mitglied der Familie schnarchen. Der Sohn des Hauses wartete im Flur auf die Überfälle der Polizei, und seine Schwester kochte in der Küche den schwarzen Kaffee. Ein gähnender Kellner schlotterte in einem gespenstischen Frack zwischen den Tischen. Unter solchen Umständen konnte man das Glück nicht herausfordern.
Aber immer wieder ging Paul nach Mitternacht in einen Spielklub.
Die Einsamkeit in seiner Wohnung war unerträglich. Seit Monaten hatte er sich schon eine Abwechslung gewünscht. In der steten Erwartung, gelegentlich der Polizei in die Hände zu fallen, trug er keine Papiere, die seine Identität bescheinigen konnten. Die Polizei kam. Er wurde in der Gesellschaft der andern auf einen Lastwagen verladen und blieb bis zum Morgen im Polizeipräsidium. Eine Nacht der Einsamkeit entrissen! Er sah den fahlen Morgen das Amtszimmer bestreichen, den alten Staub auf den grünen Pappendeckelbänden der Kartothek, die grindigen, verschwitzten und gesprungenen Mauern und den gelben Lichtfleck der nächtlichen Lampe, die einer Verordnung gemäß noch bis acht Uhr zu brennen hatte. Dann ging er durch die verworrenen Räume des großen Hauses. Er hielt sich vor dem Kasten mit den Photographien unbekannter Leichen auf, er sah die toten Gesichter, durch furchtbare Wunden entstellt, zertrümmerte Schädeldecken, abgerissene Augenlider, zerfetzte Oberlippen, enthüllte Kiefer, von Wasserratten angenagte Ohrmuscheln. So viele Menschen verschwanden also aus dem Leben – und niemand hatte sie gekannt.
»Nicht wahr, ein schönes Familienalbum«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Es war Nikolai Brandeis.