Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Название Gesammelte Werke von Joseph Roth
Автор произведения Йозеф Рот
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027210305



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ein einziges Mal – an eine Nacht, in der sie mit mir lustig war. Da hatte sie sich auch hinter dem Vorhang versteckt.«

      »Und wenn dieser Tag niemals kommt?« »Das gibt es nicht. Ich kenne sie genau. Sie wartet selbst auf diesen Tag. Sie weiß es gar nicht. Ich kenne sie besser, als sie sich selbst kennt.«

      Wir kamen an ihr Haus. Das Dienstmädchen sagte:

      »Die gnädige Frau ist gestern nacht abgereist. Hier ist ein Brief.«

      Arnold steckte den Brief in die Tasche, ohne ihn anzusehen. Wir gingen den halben Weg schweigsam zurück. Dann kehrten wir in ein Kaffeehaus ein. Da las Arnold.

      »Sie hat plötzlich wegfahren müssen«, sagte er. »Es wird ein Film in Ischl gedreht. Ich weiß aber nichts davon. Kann es ›Der tödliche Berg‹ sein? Oder ›Im Schatten der Riesen‹? – Es ist nämlich ein Märchenfilm, dort soll sie die Prinzessin sein.« –

      Was hatten wir noch zu sprechen? Wir gingen auseinander.

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      Nach einigen Tagen sah ich in der »Illustrierten Zeitung« Erna an der Seite eines bekannten Schauspielers, der auf der Leinwand die Dämonischen gab, auf der Photographie aber ein Bergsteigerkostüm hatte.

      »Die Kunst in den Bergen« hieß die Bilderreihe. Alle Jünger aller Künste trugen Alpenstöcke und waren ausgelassen vor Heiterkeit.

      Es folgten zwei Monate, in denen Arnold nicht zu sehen war. Er kam nicht ins Kaffeehaus. Er kam auch nicht in den Klub. Ich besuchte ihn in seiner Redaktion.

      »Alles«, sagte er, »hätte sie machen dürfen, nur nicht mit diesem Lümmel wegfahren. Die Aufnahmen für den Film ›Im Schatten der Riesen‹ beginnen erst in sechs Wochen. Wenn sie ihre Launen mit den Mädchen hat, das ist selbstverständlich. Aber wo soll das hinführen, wenn sie sich einmal mit einem Mann eingelassen hat? In aller Augen ist sie jetzt eine leichte Beute. Mit diesem Kerl! Er ist der dümmste! Er ist sogar unter Schauspielern der dümmste.

      Ich hätte noch verstanden«, sprach er weiter, auf und ab gehend, »wenn sie eine außerordentliche Gelegenheit wahrgenommen hätte. Der Generaldirektor Hartwig zum Beispiel. Er bemüht sich seit Jahren um sie. Er wollte ihr eine komplette Filmgesellschaft einrichten, mit allem. Er wollte ihr das große Alga-Atelier schenken. Ich hätte mich sofort scheiden lassen, wenn ich gesehen hätte, daß sie es nötig hat.

      Wenn von heute in einer Woche nichts kommt, nehme ich Urlaub und fahre hin!«

      Arnold ging zum Schreibtisch, blätterte im Kalender und strich ein Datum rot an.

      »Ich fahre!« sagte er.

      Auf seinem Schreibtisch standen sechs Photographien seiner Frau. Erna in verschiedenen Kostümen und Rollen. Erna, Erna, Erna.

      Da Arnold fortgehen wollte, legte er die Photographien in eine große Mappe und schloß sie in eine Lade.

      »Ich lasse nie die Bilder stehen!« sagte er.

      In diesem Augenblick brachte man Arnold ein Telegramm. Er ließ den Mantel, den er auf dem Arm gehabt hatte, fallen, den Hut und Stock. Seine Hände zitterten. Er hielt das geschlossene Telegramm einige Sekunden in der Hand. Dann ging er zum Fenster, wie um beim Licht besser zu lesen. (Denn es dämmerte schon.) Dann überlegte er eine Weile, ging zur Tür, drehte das Licht auf, zündete auch die Schreibtischlampe an, setzte sich, wie um eine größere Arbeit in Angriff zu nehmen, und öffnete das Telegramm.

      »Ich reise sofort«, rief er und stürzte aus dem Zimmer.

      XVII

       Inhaltsverzeichnis

      Es war um jene Zeit, da kam der alte Herr Zipper nach Berlin. Ein Prozeß, den er schon seit vielen Jahren auszutragen hatte und von dem er manchmal zu erzählen liebte, mit einem gewissen Stolz, als handelte es sich um ein großes Verdienst, dessen Belohnung der Ausgang des Prozesses bringen würde – indessen er höchstens die Verurteilung Zippers ergeben konnte –, dieser Prozeß sollte endlich stattfinden. Und obwohl es der rechtlichen Lage nach, wie die Juristen sagten, natürlich gewesen wäre, den Prozeß in der Stadt spielen zu lassen, in der Zipper wohnte, hatte dieser es durch allerhand Künste und Kniffe, die ihm niemals gelungen wären, wenn er sie nicht zu seinem Schaden angewendet hätte, nach langen Jahren verstanden, die Verhandlung bei einem Berliner Gericht anberaumen zu lassen, weil Zipper sich einbildete, daß die »Sache schneller klappte« als in Österreich, wo »die Richter ihre Nägel kauten«. Der alte Zipper, der schon längst nach Berlin hatte kommen wollen, hatte jetzt einen Vorwand, der ihn vor seiner eigenen Frau sogar hätte rechtfertigen können, wenn sie es nicht schon längst müde gewesen wäre, von ihrem Mann Rechenschaft zu fordern. »Dieser Prozeß kostet mir schon ein schweres Vermögen«, liebte der alte Zipper zu sagen. Aber welcher Prozeß hätte schon kein Vermögen gekostet? Und wenn ich ihn fragte: »Haben Sie denn Aussichten, zu gewinnen?«, so lächelte Zipper ein wissendes und müdes Lächeln, wie einer, der die Geheimnisse der Schöpfung ergründet hat, lächeln mag, wenn man ihn fragt, ob der liebe Gott wirklich einen langen Bart habe. Zippers Augen begaben sich für eine längere Weile in unbekannte, vielleicht unirdische Regionen, aus denen sie dann leuchtend und erleuchtet auf den Fragenden zurückblickten. Und wie aus einer Welt, die der andere niemals erreichen würde, kam die Antwort Zippers: »Ob ich den Prozeß gewinnen werde? Mein lieber Freund, Prozesse hängen nicht von den Gesetzen ab, sondern vom Schicksal. Es ist meine feste Überzeugung, daß man die dicken Bücher umsonst geschrieben hat und umsonst studiert. Der Richter hat keine Ahnung, der Kläger nicht und der Anwalt auch nicht. Nur der Angeklagte ist ein wenig orientiert, und in diesem Fall bin ich der Angeklagte« – und Zipper legte seine rechte Hand mit gespreizten Fingern auf die breite Krawatte, die den ganzen Ausschnitt seiner Weste verdeckte. »Ja, sehen Sie mich nur an! Ich bin der Angeklagte!« fuhr Zipper fort. »Und so wahr ich es bin, wird man mich auch verurteilen. Meine Anwälte meinen zwar, es gäbe Auswege. Aber ich bin für Auswege nicht zu haben. Zwar glaube ich nicht an Gerechtigkeit, aber ich glaube an das Schicksal. Es möge sich erfüllen!«

      An dem Tag, an dem Arnold das Telegramm erhalten hatte, bekam auch ich eines, von Arnolds Vater. »Ankomme Mittwoch elf Uhr vormittags, entschuldigt Störung, Näheres mündlich!« lautete die Depesche. Ich mußte den alten Zipper erwarten – ich war übrigens auch neugierig genug, ihn zu sehen. Er kam mit einem eleganten Lederkoffer, den er sich eigens von einem Geschäftsfreund für diese Reise geliehen hatte. Er trug eine englische großkarierte Reisemütze und den Stock mit der Krücke aus echtem Elfenbein samt einem Schirm in einem Etui. Man konnte ihn für einen gewiegten Weltreisenden halten.

      Er stieg aus dem Coupé, seinen Chronometer in der Hand – und ich hatte ihn kaum begrüßt, als er sagte, während er mit dem Zeigefinger auf das Uhrglas klopfte: »Genau eine Minute und zehn Sekunden Verspätung! Übrigens habe ich gemerkt, daß die elektrischen Uhren auf allen Stationen verschiedene Zeiten zeigen. Ich frage mich, wozu da die Elektrizität!« Und ehe wir in einen Wagen stiegen, sagte er: »Zu Arnold!« – in einem Ton, aus dem zu entnehmen war, daß der alte Zipper glaubte, jeder Chauffeur müßte die Adresse Arnolds kennen.

      »Ich hätte ja Arnold selbst telegraphiert!« sagte der alte Zipper, »aber ich glaube, es ist besser, ich überrasche ihn. Er hat mir geschrieben, daß seine Frau verreist ist, also ist keine Störung zu befürchten.«

      Ich erzählte dem alten Zipper nicht, daß Arnold niemals mit seiner Frau zusammen wohnte. Es hätte Mühe gekostet, seinen Fragen standzuhalten oder auszuweichen. Ich vermied es überhaupt, mit Zipper zu sprechen. Ich ließ ihn reden und dachte über ihn nach. Er hatte sich eigentlich nicht verändert. Er ist wieder jünger geworden. Der Krieg, der Tod seines jüngeren Sohnes, das Unglück seines älteren – das er doch fühlen müßte –, Sorgen, Schulden und die Beschwerden des Alters hatten ihm nur eine Trauer umgelegt, wie eine Kleidung, wie einen Mantel, den man sich anzieht, weil es draußen kalt ist, nicht weil man selbst friert. Und wie es Menschen gibt, denen ein Klimawechsel gar nichts bedeutet und denen es im Winter ebenso heiß ist wie im Sommer, nur daß sie der allgemeinen