Название | Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten |
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Автор произведения | Stefan Zweig |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027208203 |
So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung zum Dichter. Auch hier ahmt die Form seines Lebens die seiner Werke geheimnisvoll nach. Hier wie dort haben die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik eines Schauerromans. In Dostojewskis Leben ist oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es zur Tragödie. Es ist ganz auf Spannung gestellt: in einzelne Sekunden, ohne Übergang, sind die Entscheidungen komprimiert, mit zehn oder zwanzig solcher Sekunden der Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes Schicksal fixiert. Epileptische Ausbrüche des Lebens – eine Sekunde Ekstase und ohnmächtiger Zusammenbruch – könnte man sie nennen. Jeder Aufschwung ist bezahlt durch Niedersturz, und diese eine Sekunde der Begnadung mit vielen hoffnungslosen Stunden des Robots und der Verzweiflung. Der Ruhm, dieser funkelnde Reif, den ihm Bjelinski in jener Stunde aufs Haupt drückt, ist auch gleichzeitig schon der erste Ring einer Fußkette, an der Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel der Arbeit schleppt. Die »Hellen Nächte«, sein erstes Buch, bleibt auch das letzte, das er als freier Mann einzig um der schöpferischen Freude willen schuf. Dichten besagt für ihn von nun ab auch: erwerben, zurückerstatten, denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist vor der ersten Zeile schon mit Vorschuß verpfändet, das noch ungeborene Kind in die Sklaverei des Gewerbes verkauft. Für immer ist er jetzt in das Bagno der Literatur gemauert, ein Leben lang gellen die verzweifelten Schreie des Eingesperrten nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine Ketten. Noch ahnt der Beginner nicht die Qual in der ersten Lust. Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und schon plant er einen neuen Roman.
Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen lerne in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, den er liebt, seine Prüfung.
Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel, Dostojewski öffnet erstaunt, aber diesmal ist’s nicht die Stimme des Lebens, ein jubelnder Freund, Botschaft des Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und Kosaken dringen in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet, seine Papiere versiegelt. Vier Monate schmachtet er in einer Zelle der Sankt-Pauls-Festung, ohne das Verbrechen zu ahnen, dessen man ihn beschuldigt: Teilnahme an den Diskussionen einiger aufgeregter Freunde, die man übertrieben die Petraschewskysche Verschwörung genannt hat, ist sein ganzes Delikt, seine Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis. Dennoch blitzt plötzlich die Verurteilung nieder zur härtesten Strafe, zum Tode durch Pulver und Blei.
Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde, die engste und reichste seiner Existenz, eine unendliche Sekunde, in der sich Tod und Leben die Lippen reichen zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er mit neun Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd ihm umgeworfen, die Glieder an den Pfahl geschnürt und die Augen verbunden. Er hört sein Todesurteil lesen und die Trommeln knattern – sein ganzes Schicksal ist zusammengepreßt in eine Handvoll Erwartung, unendliche Verzweiflung und unendliche Lebensgier in ein einziges Molekül Zeit. Da hebt der Offizier die Hand, winkt mit dem weißen Tuche und verliest die Begnadigung, das Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.
In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus seinem ersten jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen fünfzehnhundert eichene Pfähle seinen ganzen Horizont. An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag um Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine Genossen sind Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit Alabasterschleifen, Ziegeltragen, Schneeschaufeln. Die Bibel wird das einzig verstattete Buch, ein räudiger Hund und ein flügellahmer Adler seine einzigen Freunde. Vier Jahre weilt er im »Totenhaus«, in der Unterwelt, Schatten zwischen Schatten, namenlos und vergessen. Als sie ihm dann die Kette von den wunden Füßen abschmieden und die Pfähle hinter ihm liegen, eine braune, morsche Mauer, ist er ein anderer: seine Gesundheit zerstört, sein Ruhm zerstäubt, seine Existenz vernichtet. Nur seine Lebenslust bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben, halbfrei und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der Verbannung, in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit, geht er jene seltsame Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken und eigenartigen, die seine mitleidige Liebe unwillig erwidert. Irgendeine dunkle Tragödie der Aufopferung ist in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in den »Erniedrigten und Beleidigten« vermag man den schweigsamen Heroismus dieser phantastischen Opfertat zu ahnen.
Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine literarischen Gönner haben ihn fallen gelassen, seine Freunde sich verloren. Aber mutig und kraftvoll ringt er sich aus der Welle, die ihn niederwarf, wieder ans Licht. Seine »Erinnerungen aus dem Totenhause«, diese unvergängliche Schilderung einer Sträflingszeit, reißen Rußland aus der Lethargie gleichgültigen Miterlebens. Mit Grauen entdeckt die ganze Nation, daß ganz atemnah unter der flachen Schicht ihrer ruhigen Welt eine andere waltet, ein Purgatorium aller Qualen. Bis in den Kreml empor schlägt die Flamme der Anklage, der Zar schluchzt über dem Buche, von tausend Lippen klingt Dostojewskis Name. In einem einzigen Jahr ist sein Ruhm wieder erbaut, höher und dauerhafter als je. Gemeinsam mit seinem Bruder gründet der Auferstandene eine Zeitschrift, die er selbst fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der Prediger, der Politiker, der »Praeceptor Russiae«. Stürmisch tönt der Widerhall, die Zeitschrift hat weiteste Verbreitung, ein Roman wird vollendet, heimtückisch, mit vielen blinzelnden Blicken lockt ihn das Glück. Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert.
Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet: es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter des Exils und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. Sibirien und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung Rußlands, sie war immerhin noch Heimat gewesen, nun soll er noch die Sehnsucht des Nomaden nach dem Zelte kennenlernen um der urmächtigen Liebe zum eigenen Volk willen. Noch einmal muß er zurück ins Namenlose, noch tiefer hinab in das Dunkel, ehe er der Dichter, der Herold seiner Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz nieder, eine Sekunde der Vernichtung: die Zeitschrift wird verboten. Wieder ist es ein Mißverständnis und gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt, Wetterschlag auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben. Seine Frau stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig sein bester Freund und Helfer. Zweier Familien Schulden hängen sich bleiern an ihn und krümmen sein Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert, druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist stärker als