Klausjäger. Silvia Götschi

Читать онлайн.
Название Klausjäger
Автор произведения Silvia Götschi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960410980



Скачать книгу

e>

      Silvia Götschi

      Klausjäger

Kriminalroman

      Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete von 1998 bis 2014 im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

      www.silvia-goetschi.ch

      Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende findet sich ein Glossar.

      © 2016 Emons Verlag GmbH

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma Bildagentur AG/Alamy

      Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

      Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

      eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

      ISBN 978-3-96041-098-0

      Originalausgabe

      Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:

      Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

      Rache ist ein Geständnis des Schmerzes.

Lucius Annaeus Seneca

      Textbeginn

      Den Gipfel umschlossen wie eine Qualle Wolken, und aus dem Himmel schossen Lichtblitze, als kehre die Dreifaltigkeit auf die Erde zurück. Ein biblisches Bild war es, und er starrte einen Moment fasziniert darauf. Vergessen war sein Auftrag und weshalb er auf dem Seeplatz stand. Seit einer Viertelstunde bereits. Den Pilatus sah er nicht wirklich, nur ein Schemen hinter dem Vorhang der Nebelwand. Er nahm das Naturtheater wahr, wie er Bilder in Illustrierten wahrnahm. Gefühle waren ihm fremd, genauso wie Regungen, die Herzklopfen verursachten. Er zählte die Striche am Horizont, die auf dem Wasser reflektierten. Insgesamt zwölf waren es. Zwölf wie die Apostel oder die Tierkreiszeichen. Die zwölf Brüder in Grimms Märchen.

      Später raffte er sich auf und ging in die Bahnhofstrasse. Deswegen war er hierhergekommen. Nach Küssnacht. Ins Dorf am Fusse der Rigi, deren Spitze mit dem Sendeturm er von hier aus sehen konnte. In diese Richtung zeigte sich der Himmel klarer.

      Er beobachtete das Gebäude auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Ein Modegeschäft, die Schaufenster schon festlich dekoriert. Er sah Leute eintreten. Leute, die herauskamen, beladen mit Tragtaschen voll neuer Errungenschaften, neuer Kleider, neuem Glück. Bald war Weihnachten. Und der Kaufrausch fand keine Grenzen. Wie schnell könne man davon süchtig werden, sagte man. Weshalb das so war, hatte er noch nie begriffen. Es interessierte ihn auch nicht.

      Er umschloss mit beiden Händen fest seinen Rucksack. Er hatte ihn vom Rücken genommen. Er war ein ganz normaler Mensch, der jetzt die Strasse überquerte. Die grossen Fenster waren mit unechten Tannenbäumen geschmückt. Überall Glimmer und Schnee und funkelnde Sterne. Und Puppen mit seidigen Haaren. Engel da und dort. Eine Melodie lockte ihn ins Innere. Die Wärme und der Zimtduft, der vom ätherischen Öl ausging. Auf dem Tresen eine Schale mit Orangen. Eine Verkäuferin wickelte ein Paket mit Goldpapier ein. Sie blickte auf. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. Ihr Mund wie zwei Zahlen. Die Zeiger einer Uhr. Zehn und zwei, dachte er.

      Er ging zur Treppe und stieg nach oben. Fünfzehn Stufen. Die Herrenabteilung war kaum besucht. Er fand schnell die Stelle, die er schon Tage zuvor inspiziert hatte. Ein Blick auf die Uhr. Das Geschäft würde heute um vier Uhr schon schliessen. Der Sonntag stand bevor. Und der Montag, an dem das Geschäft geschlossen blieb. Er sah sich um. Niemand mehr da. Eine Kundin hatte sich nach unten begeben. Das Licht war bereits gedimmt. Er würde sich unter dem Kleiderständer an der hinteren Wand verstecken. Einfach zusammenrollen. Der Boden, auf dem sich der Ständer befand, war etwas erhöht. Dort lag ein wenig Staub. Er deponierte seinen Rucksack. Ein schneller Blick ins Büro. Ein Mann sass am Pult, den Rücken hatte er ihm zugewandt.

      Bald würde dieser den Raum hier verlassen. Dann war er allein.

      Allein mit seinem Plan. Mit seinem Auftrag.

      EINS

      «Das musst du dir ansehen! Diesmal kommst du nicht darum herum.» Henry Vischer hatte sie fast angefleht. «Seit acht Monaten lebst und arbeitest du im Kanton Schwyz. Der Klausumzug in Küssnacht gehört zu unserer Kultur. Wenn du willst, kannst du nachher bei mir schlafen. Ich habe genügend Platz.»

      Valérie Lehmann hatte dies mit einem Schmunzeln quittiert. Sie hatte nie viel von Paraden gehalten, schon gar nicht in einer Jahreszeit wie dieser. Es war Montag, der 5. Dezember, und eine Schweinekälte.

      Seit einer halben Stunde stand sie in der Nähe des Kreisels, schräg gegenüber dem Pizza-Kurier, und fror. Ihre Füsse fühlten sich wie Eisklötze an, obwohl sie ihre mit Schaffell gefütterten Stiefel trug und unter dem Daunenmantel mindestens vier Lagen Stoff und Wolle, vom Unterhemd bis zum Kaschmirpullover.

      Der Polizeipsychologe Henry Vischer hatte sie mit seinem Charme letztlich doch überzeugen können. Jetzt hielt er ihr einen Pappbecher dampfenden Tee hin. Sie griff dankbar danach und fragte sich, wie er es ohne wärmende Mütze und Haare aushielt. Er schien gegen die Minustemperaturen immun zu sein. Sie lächelte vor sich hin. Mit dem Vorschlag, bei Henry zu übernachten, konnte sie sich ein wenig anfreunden. Sie hatte seine Wohnung erst einmal gesehen und war angenehm überrascht gewesen. Sicher würde er ihr einen Futon zur Verfügung stellen, er, der bekennende Japanfan. Und er würde sie in Ruhe lassen. Mittlerweile kannte sie ihn recht gut und wusste, dass er nie auf die Idee kommen würde, sie zu belästigen. Er war mit einer Frau liiert, die in Japan studierte. Sie führten eine gut funktionierende Fernbeziehung. Sex werde überbewertet, war Henrys Auffassung. Wenn man sich liebe, werde alles andere nebensächlich – auch die Distanz. Im Sommer war er sechs Wochen in Bunkyō gewesen, hatte davon geschwärmt, was sie dort unternommen hatten – Helena und er. Sie seien durch den Botanischen Garten gewandert, hätten das Judoinstitut, den Nezu-Schrein sowie den Yushima-Seidō-Tempel besucht.

      Das fahle Licht der Strassenlampen kämpfte sich durch den Nebel, der seit dem Nachmittag noch zugenommen hatte. Seit einer Stunde drängten sich die Leute auf ihre Stehplätze, die sie gepachtet zu haben schienen. Und es wurden immer mehr.

      «Ich hatte eine gute Nase, uns früh an den Strassenrand zu stellen», sagte Henry voller Stolz. «Um acht gibt’s hier kein Durchkommen mehr.»

      «Und was ist jetzt an dieser Veranstaltung so besonders?» Valérie schlürfte vom Tee. Ihre klammen Hände hatte sie um den Becher gelegt. Neben sich spürte sie Henrys Körper und wunderte sich, wie warm seine Schulter abstrahlte.

      «Ich hielt es zuerst auch für Humbug», sagte er. «Aber seit meinem ersten Mal vor sechs Jahren gehe ich jedes Jahr hierhin. Ich mag die Atmosphäre. Zudem gehört der Klausumzug zu den bekanntesten Nikolaustraditionen Europas. Tausend Klausjäger und zweihundert Iffele laufen mit. Über zwanzigtausend Zuschauer kommen hierher.»

      «Du bist gut informiert.» Valérie beobachtete eine Familie mit drei Kindern, die sich durch das Gedränge drückte und die Kinder zum Ärgernis eines älteren Ehepaares vor dessen Nasen auf das Trottoir pflanzte.

      Das ganze Dorf war auf den Beinen. Auch von den umliegenden Orten sowie aus der ganzen Schweiz, sogar aus Deutschland waren die Leute angereist, um dem alljährlichen Treiben in Küssnacht beizuwohnen. Die Fenster an den umliegenden Häusern waren weihnachtlich dekoriert. Lämpchen und Tannenzweige schmückten sie und mit farbigem Seidenpapier und schwarzem Karton angefertigte Sujets. Landschaften wurden ersichtlich. Märchenfiguren und Tiere. Der Dorfplatz als ein Adventskalender, damit jedermann die Tage bis zu Weihnachten zählen konnte.

      Ein Donnerschlag erschütterte die Gegend, ein Böllerschuss. Der Boden zitterte. Viertel nach acht war’s. Die Lichter gingen aus, als wäre im Elektrizitätswerk der Hauptschalter gekippt worden. Es herrschte eine gespenstische Szenerie. Henry drückte Valérie an sich. Hätte sie nicht so verdammt gefroren, hätte sie es nicht zugelassen.