Название | Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert |
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Автор произведения | Georg Brandes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 4064066113728 |
Ich habe meiner Tugenden und Fehler
Mich nie geschämt, mit jenen nie geprunkt,
Und meiner Sünden macht' ich nie den Hehler.
Denn dies vor Allem, dünkt mich, ist der Punkt,
Wo Freigeborne sich vom Pöbel scheiden,
Der feig und heuchlerisch herumhallunkt.
Den nenn' ich vornehm, der sich streng bescheiden
Die eigne Ehre gibt und wenig fragt,
Ob ihn die Nachbarn lästern oder neiden.
Und mit fast ähnlichen Worten spricht die früher von aristokratischem Schein geblendete Toinette diesen Grundgedanken aus: „Es gibt nur Eine wahre Vornehmheit: sich selber treu zu bleiben. Gemeine Menschen kehren sich an das, was die Leute sagen, und bitten Andere um Auskunft darüber, wie sie selbst eigentlich sein sollen. Wer Adel in sich hat, lebt und stirbt von seinen eigenen Gnaden und ist also souverän“.[9] Diese Art von Adel ist denn der Stempel, den die ganze, diesem Dichtergehirn entsprungene Menschenrace trägt. Sie besitzen ihn alle, vom Bauer bis zum Philosophen, und vom Fischermädchen bis zur Gräfin. Die einfache Kellnerin in der „Reise nach dem Glück“ spricht eine Lebensansicht aus, die genau mit der eben angeführten zusammenfällt[10], und wer sich nur die Mühe geben mag, die Schriften Heyse's zu durchblättern, wird entdecken, dass das kleine Wort „vornehm“ oder ein Aequivalent dafür immer eins von den ersten ist, die er anbringt, sobald es gilt zu charakterisiren oder zu preisen. Man sehe z. B. in einem einzigen Band der Novellen die Anwendung des Wortes „vornehm“, um die äussere Erscheinung, Blick und Haltung zu bezeichnen (in „Mutter und Kind“, in „Am todten See“, in „Ein Abenteuer“ VIII. 44, 246, 331). Oder man durchblättere, um sich von der durchgreifenden Bedeutung dieses Charakterzuges zu überzeugen, Heyses zwei erste Romane. In „Kinder der Welt“ bezeichnen alle die dem Leser sympathischen Personen sich gegenseitig als adlige Geister: Franzelius nennt Edwin und Balder die wahren Aristokraten der Menschheit, Edwin findet in der höchsten Schwärmerei der Leidenschaft kein höheres Lob für Toinette und Lea als das, dass sie das Adelsgepräge tragen, und da Toinette nach der Begegnung mit Lea diese als die würdige Gattin Edwin's anerkennt, ist es wieder derselbe Ausdruck, der sich ihr zu allererst darbietet; sie bezeichnet in ihrem Briefe Lea als Edwin's „so vornehme, kluge und holdselige Lebensgefährtin“.[11] Und in dem Roman „Im Paradiese“, dessen ersten Entwurf wir vermuthlich in dem versificirten Fragmente „Schlechte Gesellschaft“ haben, steht durchgängig die sogenannte „schlechte“ Künstlergesellschaft als die wahrhaft gute und vornehme der sogenannten vornehmen Gesellschaft gegenüber.[12] Von den Künstlern ist keiner im gewöhnlichen Sinne des Wortes Aristokrat. Ihre Herkunft ist, wie die der Helden in „Kinder der Welt“, durchgehends äusserst unansehnlich. Aber die Vornehmheit liegt ihnen im Blute, sie gehören zu den Auserkorenen, die gut und richtig handeln, nicht aus Pflichtgefühl oder durch mühsame Ueberwindung schlechter Triebe, sondern aus Natur. Was Toinette irgendwo „den redlichen Willen, der Menschheit keine Schande zu machen“ nennt, hat auch der Roman „Im Paradiese“ als den natürlichen Adel im Gegensatze zu der auf künstlichen Principien beruhenden Noblesse aufgestellt.
Wenige Dichter haben deshalb eine solche Reihe von Charakteren ohne Falsch und ohne Gemeinheit geschildert, wie Heyse. Niemand hat einen besseren Glauben an die Menschen gehabt. Den triftigsten Beweis dafür, wie lebendig sein Bedürfniss ist, überall das edle Erz in der Menschennatur hervorzuheben, liefert der Umstand, dass, wo bei ihm ein Umschlag im Charakter des Handelnden dem Leser oder dem Zuschauer eine Ueberraschung bereitet, die Enttäuschung immer darauf beruht, dass die Erwartung übertroffen wird und die Persönlichkeit sich weit besser und tüchtiger, weit edelgesinnter erweist, als Jemand geahnt hatte. Bei fast allen andern Dichtern ist die Enttäuschung die entgegengesetzte. In den Novellen, wie z. B. in „Barbarossa“ oder „Die Pfadfinderin“, wird die Versöhnung dadurch bewirkt, dass die schlechte Person der Erzählung zuletzt in sich geht, und da der Kern ursprünglich gut ist und der Betreffende wohl manchen hitzigen und schlechten, aber keinen eigentlich bösen Blutstropfen in sich hat, kommt eine Art Friedensschluss zwischen ihm und dem Leser, zur Verwunderung des letzteren, zu Stande. Weit bedeutsamer jedoch als in den Novellen tritt dieser charakteristische Optimismus in Heyse's Dramen hervor. Sie verdanken ihm ohne Frage ihre besten und wirkungsvollsten, vielleicht ihre entschieden dramatischsten Scenen. Ich will ein paar Beispiele anführen. In „Elisabeth Charlotte“ hat der Chevalier von Lorraine unedle Mittel aller Art benutzt, um die Heldin zu stürzen und die männliche Hauptperson des Stückes, den deutschen Gesandten Grafen Wied, aus Frankreich zu entfernen. Von dem Grafen gefordert, ist er schwer verwundet worden, und als jener von politischen Intriguen umstrickt, in die Bastille geschickt worden ist, tritt er im fünften Act im Audienzzimmer des Königs auf. Was kann er wollen? Den Grafen noch ärger anklagen? Sein unehrenhaftes Betragen fortsetzen, das seinem Gegner schon so viel Unglück und ihm selbst eine Wunde eingetragen hat? Wird er sich rächen, die Lage ausnutzen? Nein, er kommt, um die feierliche Erklärung abzugeben, dass der Graf wie ein echter Edelmann gehandelt hat, und dass er selbst an dem Duelle Schuld ist. Er wünscht sogar, selbst in die Bastille gesandt zu werden, damit sein Gegner nicht glaube, er hätte ehrlos einen unrichtigen Grund des Duells angegeben; mit anderen Worten: sogar in diesem verderbten Hofmanne lebt das Ehrgefühl als Rest des altfranzösischen Rittergeistes, ersetzt bis zu einem gewissen Grad das Gewissen, und zwingt ihn im entscheidenden Augenblick sich von seinem Schmerzenslager zu erheben, um zu Gunsten des Feindes einzuschreiten, den er rachsüchtig und rücksichtslos verfolgt hat. — In dem schönen und volksthümlichen Schauspiel „Hans Lange“ findet sich eine Scene, die bei der Aufführung die Zuschauer in athemloser Spannung hält, und deren Ausgang immer vielen Augen Thränen entlockt: es ist die Scene, wo das Leben des Junkers auf dem Spiele steht. Er ist verloren, wenn die Reiter ahnen, dass er es ist, der als Sohn des Juden verkleidet auf der Bank liegt. Da tritt der Grossknecht Henning auf, von Reitern geführt, die ihn im Stalle haben brummen hören, er wisse wohl, wo der Hase im Pfeffer liege. Henning ist vom Junker verdrängt worden; bevor dieser nach Lanzke kam, war er wie ein Kind im Hause, jetzt ist er weniger als Stiefkind geworden und er hat immer einen Groll auf den Vorgezogenen gehabt. Mit grösster Kunst wird die Scene nun so geführt, dass Henning trotz der Bitten und Verwünschungen der Eingeweihten immer deutlicher zu verstehen gibt, dass er sich an dem Junker rächen wolle, dass er wisse, wo derselbe sei, und dass keine Macht in der Welt ihn davon abhalten werde, seinen Feind zu verrathen — bis er, feurige Kohlen auf des Anderen Haupt sammelnd und sich mit dem eingejagten Schrecken begnügend, endlich das Blatt vom Munde nimmt, um die ihm jetzt natürlich blindlings vertrauenden Verfolger vollständig auf die falsche Spur zu bringen. — Und genau von derselben Natur ist endlich die entscheidende und schönste Scene in dem patriotischen Drama „Colberg“. Es wird Kriegsrath gehalten, aber auch die Bürger sind berufen, denn die Wichtigkeit des Augenblicks macht es wünschenswerth, dass alle Stimmen gehört werden. Alle Hoffnung für die belagerte Stadt scheint aus zu sein. Der französische General hat ein Schreiben gesandt, um Gneisenau zu einer ehrenhaften Capitulation aufzufordern. Das ganze Officiercorps erklärt sofort, dass von Uebergabe der Festung keine Rede sein kann, und Gneisenau legt dann der Bürgerschaft die Frage vor, ob man sich vom Feinde eine Frist erbitten solle um den Bürgern, Frauen und Kindern den Auszug aus der allen Schrecken preisgegebenen Stadt zu sichern. Da erhebt sich der alte pedantische Schulmeister Zipfel, ein echter altmodischer deutscher Philologe, um im Namen der Bürgerschaft die Antwort zu ertheilen. Mit vielen Umschweifen, mit lateinischen Redensarten spinnt er unter allgemeiner Ungeduld seine Rede aus. Man unterbricht ihn, man gibt ihm zu verstehen, dass man wohl wisse, er denke nur daran, dem Commandanten und den Truppen die gefährliche Vertheidigung der Stadt zu überlassen — endlich gelingt es ihm, die Ansicht zu erklären, die er mit der langen Erzählung vom grossen Perserkriege und Leonidas mit seinen Spartanern im Sinne gehabt; die Ansicht nämlich, dass es Allen, ohne Unterschied gebühre, dazubleiben und zu sterben. Diese Scene hat Heyse con amore geschrieben. Sie enthält,