Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026824862



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Bäumen, die im grellen Sonnenlicht scharfe Schatten warfen, war wirklich großartig.

      Wiederum kam ihm die Altersschwäche seines Vaters in den Sinn. ›Das ist wahrlich sonderbar‹, sagte er zu sich. ›Mein Vater ist nur fünfunddreißig Jahre älter als ich. Fünfunddreißig und dreiundzwanzig machen zusammen nur achtundfünfzig!‹ Seine Blicke hafteten starr an den Zimmerfenstern jenes strengen Mannes, den er nie geliebt hatte, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zitterte, und ein plötzlicher Schauer durchrieselte seine Adern, als er seinen Vater zu erkennen wähnte, wie er über eine von Orangenbäumen eingefaßte Terrasse schritt, die sich vor seinem Schlafzimmer hinzog. Aber es war nur ein Kammerdiener. Mit einem Male sah er unter dem Turm eine Schar junger Mädchen in weißen Kleidern in verschiedenen Gruppen; sie waren dabei, rote, blaue und gelbe Blumen nach einem bestimmten Muster auf den Weg zu streuen, den die Prozession nehmen sollte. Aber schon sprach ein lebhafteres Schauspiel zu Fabrizzios Seele. Vom Turm aus schweiften seine Augen auf die beiden Arme des meilenlangen Sees; und dieser herrliche Anblick ließ ihn bald alles andere vergessen; er erweckte in ihm die hehrsten Empfindungen. Eine Flut von Erinnerungen aus seiner Kindheit drängte sich in seine Gedanken. Dieser Tag, den er in einem Glockenturm eingesperrt verbrachte, war vielleicht einer der glücklichsten seines Lebens.

      Das Glück hob ihn empor in eine seinem Wesen recht fremde Gedankenwelt. Er betrachtete das Leben, er, der noch so jung war, als ob er schon am Ziel seines Strebens angelangt sei. ›Ich muß gestehen,‹ sagte er sich schließlich nach stundenlanger köstlicher Träumerei, ›seit meiner Ankunft in Parma habe ich keine so ruhige und reine Freude gehabt wie in Neapel, wenn ich auf den Wegen des Vomero hingaloppierte oder am Gestade von Misenum wandelte. Die verwickelten Anliegen jenes boshaften kleinen Hofes haben mich boshaft gemacht. Ich habe gar keine Freude am Hassen; ich glaube sogar, es wäre für mich ein trübseliges Glück, meine Feinde, wenn ich welche hätte, zu demütigen. Aber ich habe keinen einzigen Feind… Halt,‹ fiel ihm plötzlich ein, ›ich habe Giletti zum Feinde! – Eines ist seltsam:‹ sagte er sich, ›das Vergnügen, das ich empfände, wenn dieser häßliche Kerl zum Teufel spazierte, hat meine sehr flüchtige Laune für die kleine Marietta überdauert. Sie reicht nicht im geringsten an die Duchezza von Albarocca heran, die zu lieben ich in Neapel verpflichtet war, weil ich ihr gesagt hatte, ich wäre verliebt in sie. Du mein Gott! Wie oft habe ich mich bei den langen Zusammenkünften gelangweilt, die mir diese Duchezza gewährte. Niemals habe ich dergleichen in dem armseligen Stübchen empfunden, das zugleich als Küche diente, wo mich die kleine Marietta zweimal und nur auf ein paar Minuten empfing.

      Ach, mein Gott! Was hatten diese Leutchen zu essen! Das war zum Erbarmen! Ich hätte ihr und der Mammaccia eine Pension von täglich drei Beefsteaks aussetzen sollen. – Die kleine Marietta‹, fügte er hinzu, ›verscheuchte mir die boshaften Gedanken, die mir der Dunstkreis des Hofes eingab.

      Es wäre vielleicht besser für mich gewesen, wenn ich das Kaffeehausleben geführt hätte, wie es mir die Duchezza geschildert hat. Sie schien es zu billigen, und sie hat viel mehr Weitsicht als ich. Dank ihrer Freigebigkeit oder auch nur mit meinem Jahresgeld von viertausend Franken und den Zinsen von den vierzigtausend Franken, die in Lyon angelegt sind, einem Geschenk meiner Mutter, hätte ich immer meinen Gaul sowie ein paar Taler für Ausgrabungen und für meine Antikensammlung gehabt. Da ich augenscheinlich nicht erfahren soll, was Liebe ist, so wird das für mich immer die Hauptquelle des Glücks bleiben. Ehe ich sterbe, möchte ich noch einmal das Schlachtfeld von Waterloo besuchen und mich nach jener Wiese umsehen, wo ich so spaßig vom Pferd gezogen und auf die Erde gesetzt worden bin. Nach dieser Pilgerfahrt möchte ich häufig an diesen köstlichen See kommen. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt zu sehen, wenigstens nicht für mein Herz. Warum in die Ferne schweifen, um das Glück zu suchen? Hier liegt es vor meinen Augen!

      Ach,‹ sagte sich Fabrizzio, gleichsam als Einwand, ›die Polizei verjagt mich vom Comer See, aber ich bin jünger als die Leute, die die Ränke dieser Polizei lenken. Hier fände ich keine Duchezza von Albarocca,‹ fügte er lachend hinzu, ›aber ich fände eine von den kleinen Mädchen da unten, die Blumen auf die Straße streuen, und, wahrlich, ich liebte sie ganz ebenso. Die Heuchelei macht mich sogar in der Liebe eiskalt, und unsere vornehmen Damen trachten nach allzu erhabenen Erfolgen. Napoleon hat ihnen Begriffe von Moral und Treue beigebracht…‹

      »Zum Teufel!« rief er plötzlich und zog den Kopf vom Fenster weg, als ob er fürchte, trotz dem Schatten der dicken Holzläden, die die Glocken vor dem Regen schützten, erkannt zu werden. »Da kommen Gendarmen in vollem Wichs!« In der Tat erschienen zehn Gendarmen, darunter vier Obergendarmen, am Ende der großen Dorfstraße. Der Wachtmeister stellte sie mit hundert Schritt Abstand längs des Weges auf, den die Prozession nehmen sollte.

      ›Jeder Mensch kennt mich hier. Wenn man mich gewahrt, komme ich im Nu vom Comer See nach dem Spielberg, wo man mir an jedes Bein eine hundertpfündige Kette hängt. Welch ein Schmerz wäre das für die Duchezza!‹

      Fabrizzio brauchte zwei oder drei Minuten, um sich zu vergegenwärtigen, daß er sich in einer Höhe von mehr als achtzig Fuß befand, daß sein Standpunkt verhältnismäßig im Dunkeln lag, daß die Augen der Gendarmen, die ihn hätten erblicken können, vom grellen Sonnenschein geblendet wurden, und schließlich, daß sie mit aufgerissenen Augen durch die Straßen liefen, deren Häuser dem Fest des heiligen Giovita zu Ehren sämtlich frisch getüncht waren. Trotz dieser so klaren Überlegung wäre Fabrizzios italienische Seele fortan außerstande gewesen, das geringste Vergnügen zu finden, wenn er nicht ein Stück alte Leinwand, in das er zwei Löcher für die Augen schnitt, zwischen sich und die Gendarmen vor die Turmluke genagelt hätte.

      Die Glocken erschütterten die Luft seit zehn Minuten; die Prozession kam aus der Kirche; die Mortaretti (Böller) knatterten los. Fabrizzio wandte den Kopf und schaute nach dem kleinen Platz, den eine Mauerbrüstung umschloß und von dem aus man den ganzen See übersah. Dort hatte er als Junge oft gestanden, und die Mortaretti waren zwischen seinen Beinen losgegangen, weshalb seine Mutter ihn am Morgen von Festtagen nicht von sich weg ließ.

      Die Mortaretti sind bekanntlich nichts weiter als Gewehrläufe, in vier Zoll lange Stücke zersägt. Nur dazu sammeln die Bauern eifrig die Gewehre, die die Politik Europas seit 1796 in Massen über die lombardische Ebene verstreut hat. Die vier Zoll langen Stücke stopft man ganz voll Pulver, gräbt sie senkrecht in die Erde und verbindet sie untereinander mit einer Zündschnur. Man baut sie in drei Reihen auf, zwei-bis dreihundert Stück, unweit des Prozessionsweges. Sobald sich das Allerheiligste nähert, brennt man die Zündschnur an, und nun beginnt das unregelmäßigste und spaßigste Schützenfeuer von der Welt. Die Frauen sind toll vor Freude. Nichts ist lustiger als das Geknatter dieser Mortaretti, das weit über den See hin schallt, gedämpft durch das Rauschen der Fluten. Dieser seltsame Lärm, an dem er als Kind so oft seine Freude hatte, verscheuchte die etwas zu ernsten Gedanken, die unseren Helden übermannt hatten. Er holte sich das große astronomische Fernglas des Abbaten herbei und erkannte die Mehrzahl der Männer und Frauen, die der Prozession folgten. Viele von den reizenden kleinen Mädchen, die Fabrizzio im Alter von elf und zwölf Jahren verlassen hatte, waren jetzt stattliche Frauen in vollster Jugendkraft. Sie weckten den Mut unseres Helden wieder; um mit ihnen zu plaudern, hätte er den Gendarmen getrotzt.

      Als die Prozession vorübergezogen und durch eine Seitentür, die Fabrizzio nicht sehen konnte, wieder in der Kirche verschwunden war, wurde die Hitze trotz der Höhe des Turmes bald unerträglich. Die Dorfbewohner kehrten in ihre Häuser zurück, und das Dorf sank in tiefe Stille. Etliche Barken füllten sich mit Bauern, die nach Bellagio, Menaggio und anderen Orten am See heimfuhren. Fabrizzio vernahm deutlich jeden einzelnen Ruderschlag. Der geringfügige Klang riß ihn hin; seine jetzige Freude beruhte im Grund auf all dem Unglück, all dem Zwang des ränkevollen Hoflebens. Wie glücklich wäre er in diesem Augenblick gewesen, hätte er ein Stück auf diesem schönen, so friedsamen See fahren dürfen, in dem sich der tiefblaue Himmel so klar widerspiegelte.

      Er hörte die Tür unten im Turm gehen; es war die alte Haushälterin des Abbaten Blanio, die einen großen Korb brachte. Mit der größten Mühe bezwang er sich, nicht mit ihr zu sprechen. ›Sie hat mich fast ebenso ins Herz geschlossen wie ihr Herr,‹ sagte er sich, ›und überdies reise ich heute abend um neun Uhr ab. Könnte sie das Geheimnis nicht ein paar Stunden lang wahren; wenn sie es mir gelobte ? Aber es wäre vielleicht meinem Freunde nicht