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      »Es lag auch ganz zuunterst«, sagte Detlev.

      »Eure Mutter hat es wohl vor euch versteckt, da sind Sachen drin, die ihr noch nicht sehen dürft.«

      Geerd wollte das Buch zumachen, aber nun fielen die beiden darüber her.

      »Was dürfen wir nicht sehen? – Gib doch her. – Was ist denn das, ein Embryo? – Weißt du das, Geerd?«

      »Ja, ich weiß schon – das ist ein Kind, ehe es geboren wird. Du bist auch mal einer gewesen.«

      Die Geschwister sahen die Illustrationen an und versanken in staunendes Schweigen. Dann wollten sie sich totlachen.

      »Gibt es denn schon Kinder, ehe sie geboren sind?«

      »Seid doch nicht so albern«, sagte Geerd und fing an, ihnen mit wissenschaftlichem Ernst den Zusammenhang zu erklären. Die Kinder hörten auf zu lachen, es erwachte zum erstenmal die Ahnung in ihnen, daß das Leben auch drohende, dunkle Tiefen barg, und es schien ihnen seltsam und entsetzlich.

      Von diesem Abend an drehten sich ihre Gedanken und Gespräche fast ausschließlich um das große Geheimnis, das sie zu begreifen suchten und doch nicht ganz begriffen. Sie nahmen es alle drei sehr ernst – die ganze Welt verwandelte sich ihnen in einen Abgrund von unausdenkbaren Greueln, sie schämten sich ihrer Mitmenschen und verachteten sie. »Wie waren die nur imstande – fast alle Erwachsenen«, sagte Geerd – »sich mit solchen sinnlosen Widerwärtigkeiten abzugeben? Die Verheirateten, um Kinder zu bekommen, das ging ja wohl nicht anders, aber die übrigen? Zum bloßen Vergnügen? – Aber wie konnte ihnen das Vergnügen machen? Und warum bekamen die keine Kinder?«

      So drängte sich ihnen Rätsel auf Rätsel, und alle wußte Geerd auch nicht zu lösen.

      »Woher weißt du eigentlich das alles?« fragten sie einmal.

      »Von meiner Mutter – sie sagt mir alles, was ich wissen will.«

      Ellen und Detlev waren sehr erstaunt und beneideten ihn um seine Mutter. Bei ihnen war das ganz anders, sie gingen beinah schuldbewußt herum, seit sie so viel erfahren hatten, und zitterten, daß die Eltern es merken könnten.

      Das Königreich geriet darüber mehr und mehr in Vergessenheit, wenigstens waren sie nicht mehr mit demselben Eifer dabei wie früher, und als die schöne Zeit wiederkam, machten sie lieber weite Spaziergänge miteinander. Der Mutter war es ein Dorn im Auge, daß Ellen immer nur mit den Jungen zusammen sein wollte, aber Geerd und Detlev ließen nicht nach, bis sie mitdurfte.

      »Meinetwegen diesen einen Sommer noch«, sagte sie schließlich, »aber dann hat es ein Ende. Dann muß sie wirklich einmal anfangen, ein vernünftiges Mädchen zu werden.«

      Davon war bis jetzt noch wenig zu merken, immer war es gerade Ellen, die mit zerrissenen Kleidern, mit Schrammen und Beulen heimkam oder schlammbedeckt und bis an den Hals durchnäßt. Woher hatte das Kind nur diese unbändige Wildheit im Leibe? Kein Baum war ihr zu hoch, kein Graben zu breit, und wurde sie dafür gescholten, so brach sie jedesmal in schmerzliche Verwünschungen aus, daß sie kein Junge war.

      Trotz all dieser Bitternisse war es noch ein wunderbar schöner Sommer, den die drei Freunde zusammen verlebten. Lange Nachmittage lagen sie draußen am Strand in dem kurzen, harten Deichgras, wenn die Luft so klar war, daß man die Inseln deutlich sehen konnte und weitum nichts hörte, wie den langgezogenen, sehnsüchtigen Schrei der Seevögel. Und der Rückweg durch den grünen Koog, wo es große Gefahren und Hindernisse mit Gräben und losgerissenen Bullen gab. Oder sie gingen weit in die Heide hinein zum »Galgenberg«. – Vor vierzig Jahren sollte dort die letzte Hinrichtung gewesen sein, jetzt stand nur noch ein einziger alter Pfosten da. Die Kinder saßen im roten Heidekraut und schauderten, wenn eine Krähe aufflog. Oft sprachen sie dann von ihrem späteren Leben – Geerd sollte zum Herbst auf eine andere Schule, und das war ein furchtbarer Schlag für sie alle. Wie sollten sie ohne einander fortleben, bis sie groß waren und tun konnten, was sie wollten. Denn dann wollten sie wieder zusammenkommen, das stand fest.

      »Ja, und du wirst wohl auch später einmal heiraten müssen, Ellen, und Kinder kriegen«, sagte Geerd manchmal. Ellen sträubte sich wütend dagegen, es war ein schrecklicher Gedanke, daß sie eine Frau werden sollte, sie suchte sich dann durch doppelte Kraftleistungen hervorzutun und redete wilde Zukunftspläne. Sie dachte immer noch daran, einmal fortzulaufen zu den Zigeunern, hatte sich heimlich beim Tischler Kniestelzen machen lassen und übte sich in Purzelbäumen, um bereit zu sein, wenn der Augenblick kam. Ach, und dann im grünen Wagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, konnte es wohl etwas Schöneres geben? Oder wenn das nicht ging, als Schiffsjunge verkleidet zur See gehen; kein Mensch hielt sie für ein Mädchen, wenn sie Detlevs Kleider anhatte.

      »Ellens Vogelbauer«, sagte der Bruder überlegen, wenn sie so sprach, und dann lachten die beiden Jungen sie aus. Ellen arbeitete nun schon seit mindestens zwei Jahren daran, einen ungeheuren Käfig für ihre Kanarienvögel zu bauen, der immer wieder mißlang, und jedesmal versuchte sie es dann auf andere Weise. Einmal hatte sie schon einen zustande gebracht aus zerspaltenen Zigarrenkisten, aber es war so dunkel darin, daß die Vögel melancholisch wurden und nicht mehr sangen. Und nun hatte sie natürlich wieder einen neuen angefangen.

      »Du hast gut reden«, sagte Ellen geärgert, denn Detlev wollte Philosoph werden und große Werke schreiben. Das war in ihren Augen kein Kunststück, und sie fand es sehr langweilig.

      Die Herbsttage kamen, im Garten wurde es feucht, alles versank in welken Blättern, und der Sturm riß große Äste von den Bäumen. Die Kinder gingen nur noch engumschlungen und waren traurig – ihnen war zumut, als ob eines von ihnen sterben sollte. An Geerds letztem Tage rissen sie die Hütten und den Mohutempel nieder und versenkten ihren Götzen in den Graben – mit bittrer Wehmut – was sollte das alles jetzt noch? Und dabei kam es ihnen vor, als ob sie seit dem letzten Jahr unendlich viel älter geworden wären.

      Gegen Abend gingen sie zusammen hinauf, um Geerds Sachen aus der Kinderstube zu holen. Während Detlev noch im Zimmer kramte, standen die beiden andern Hand in Hand auf der Diele neben der großen Stehuhr, die immer so unheimlich laut tickte und beim Schlagen wie ein Uhu heulte. Es war schon halbdunkel. Ellen sah nur Geerds weißen Strohhut und seine weiten, schwarzen Augen, sie sehnte sich heimlich danach, ihm um den Hals zu fallen und ihn viele Male zu küssen, fand aber nicht den Mut dazu. Dann kam Detlev, und sie begleiteten ihren Freund zum letztenmal durch den dunklen Rittersaal, die Treppe hinunter und über den Hof bis zur ersten Laterne.

      Die Geschwister wohnten nebeneinander und die Tür zwischen ihren Zimmern stand immer offen. Wenn sie im Bett waren, kam die Mutter herauf und betete mit ihnen. An diesem Abend konnte Ellen kaum ein Wort herausbringen und war in Todesangst, daß Mama böse würde. Die sagte aber nur:

      »Ich finde es auch schade, daß Geerd fort ist, aber nun muß das viele Herumtoben wirklich aufhören.«

      Mama fand es auch schade – das rührte Ellen so, daß sie sich nur mit Mühe beherrschte. Als die Mutter wieder hinunterging, schlich sie sich leise zu Detlev hinein und setzte sich auf sein Bett. Sie umarmten sich immer wieder und weinten zusammen, dann sprachen sie noch lange von Geerd und wie nun alles verödet war ohne ihn.

      Seit Geerd fortging, war für Ellens Kinderzeit die beste Freude verloschen, und sie suchte mit tiefem Verlangen nach etwas, das ihr Leben wieder so ausfüllen sollte.

      Detlev kam nun auch aufs Gymnasium, er fand neue Freunde, die meistens rasch wechselten; die alte Kameradschaft zu dreien kam mit keinem mehr recht zustande. Die Mutter schränkte Ellens Freiheit auch immer mehr ein, sie fand jetzt mit einemmal, daß sie sich früher zu wenig um das Mädchen gekümmert hatte, und zwang sie, viele von den schönen freien Nachmittagen mit einer Näharbeit im Wohnzimmer zu sitzen. Und Ellen haßte diese Art von Beschäftigung mit verzweifelter Unlust, es war fast noch schlimmer wie Lernen. Ihr ganzer Tag bestand aus immer neuen Versuchen, diesen beiden Übeln zu entrinnen. Wo sie nur konnte, stahl sie sich fort auf die Koppel hinaus, wo der Wind durch die mächtigen Baumkronen strich. Da hörte sie nicht, wenn die Mutter sie rief, und fühlte sich eine kurze Weile sicher vor ihr. Und ihre Seele klammerte sich leidenschaftlich an diese ganze Heimatswelt, die in tausend vertrauten Tönen zu ihr sprach;