Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Jetzt nahm ich tiefe Atemzüge in der Freiheit. Die ewige Pein um die Lieben zu Hause war abgefallen, da die zwei ungleichen Brüder Männer geworden waren, die sich untereinander und der Mutter beistanden. Edgar als blutjunger Dozent hatte Alfred unter seinen Hörern; das beendigte ganz von selbst die Knabenfehde. Wohl schrieb Mütterlein ihre klagevollen superlativischen Briefe, aus denen ein Uneingeweihter lauter Unheil hätte entnehmen müssen. Aber Balde, das treue Bruderherz, sandte heimlich beruhigende Zeilen nach. Für nichts auf der Welt zu sorgen haben als für sich selbst – ein unfassbarer Glücksstand! Dabei war ich nicht einmal allein, denn Erwin teilte als junger Akademiker meine Münchner Wohnung; wenn er auch seine eigenen Wege ging, so hatte doch jedes ein Stück Heimat bei sich. Innerhalb von sechs Monaten war meine Stellung in München gemacht. In der literarischen und künstlerischen Oberschicht hatte ich mir einen erlesenen Freundeskreis erworben, meinen Unterhalt bestritt ich durch Sprachunterricht und Übersetzungen. Manchmal nahm ich erst morgens im Bette den Abschnitt durch, der gleich im Unterricht darankommen musste, und machte dabei die Erfahrung, dass man am besten lehrt, was man eben selber noch nicht gewusst hat.
Aber auch München war noch nicht die mir bestimmte Stätte. Hätte ich bleiben und mich völlig anpassen können, so hätte wohl bald ein günstiger Wind meine Segel erfasst und mich einen bequemeren und sichreren Kurs geführt als den mir vorbeschriebenen. Aber diese Lösung wäre zu einfach gewesen, ich musste zuvor noch einen weiten Bogen beschreiben. Was war es, das mein Dämon mit mir vorhatte? Heute weiß ich es: ich sollte nichts der Gunst und Gönnerschaft verdanken, um innerlich ganz frei zu sein, sollte künstlerisch nirgends Anlehnung finden, keiner Strömung einen Zufluss bringen und auch von keiner getragen werden, sondern mich selber durch Geklüfte quälen, unter Felsen durchwühlen, statt des raschen brausenden Laufs, den ich mir erhofft hatte, mich mäandrisch durch eine kleinlich hindernde Ebene winden, sollte wie mein geliebtester Strom, die Donau, im Boden versickern, ehe sie durchbricht nach ihrem Zukunftsland.
Im Frühjahr 1877 kam Edgar »der Plötzliche«, wie sie ihn im Verwandtenkreis nannten, auf der Durchreise nach Italien zu mir. Auch ihm waren die Sterne der Heimat nicht günstig gewesen. Er hatte trotz genialer Begabung und erprobter Tüchtigkeit nirgends im Land eine Anstellung gefunden, weil er sich in Auftreten und Anschauungsweise dem Philistertum nicht anpassen konnte. Gönnerschaft gab es nicht für die Kurzischen, und im Lande der Vettern und Basen hatten wir nahezu keine. Mein Vater besaß nur einen Bruder, der ihn nicht lange überlebte, und meiner Mutter waren die Brüder weggestorben, bevor sie geboren wurde, auch waren die Brunnows nicht im Lande ansässig. Jetzt wollte er es in Florenz versuchen und, sobald er Fuß gefasst hätte, Mama mit Balde und Josephine nachholen; von mir hoffte er, dass ich mich dann gleichfalls anschließen würde. Auch mit ihm ging das Glück, denn schon im August konnte er berichten, dass er festen Boden unter den Füßen hatte. Es war dabei auf eine Weise zugegangen, die nahe ans Wunderbare streifte: er hatte bei einem russischen Kind, das keine Nahrung behalten konnte und langsam Hungers starb, allen anderen ärztlichen Diagnosen entgegen, einen äußerst seltenen Fall, nämlich einen Sack in der Speiseröhre, der die getrunkene Milch zurückhielt und nach einigen Stunden unverdaut wiedergab, durch bloße Geistesschärfe – denn man wusste ja noch nichts von Röntgenstrahlen – erkannt und festgestellt. Durch die Sicherheit seines Blicks und die Festigkeit seines Auftretens hatte der vierundzwanzigjährige deutsche Arzt, der bei seiner zarten, fast mädchenhaften Schönheit noch jünger aussah als er war, im Handumdrehen ein Ansehen erlangt, das ihm gestattete, sich in einem Weltmittelpunkt wie Florenz eine nicht mehr zu erschütternde, wenn auch rings von kollegialen Anfeindungen umlagerte Stellung zu schaffen. Aus Florenz erreichte mich sein Ruf: Kommen! Aus Tübingen scholl es verstärkt herüber: Kommen! Mitkommen! So lieb mir München geworden war, ich verstand den Ruf des Schicksals und sagte: Ja.
Entschlüsse von solcher Folgenschwere werden nicht durch Überlegung getroffen, es wirkt dabei wie in allem Schicksalhaften ein Irrationales, besser gesagt, ein Überrationales mit. Aus dem damaligen deutschen Leben entrückt zu werden war bedeutungsvoller, als ich selber es zur Zeit ahnen konnte. Deutschland stand im Glanze Bismarcks, der eben erst das brennende Sehnen der Deutschen nach einem deutschen Reich gestillt hatte. Wir standen als große Nation gleichwertig bei den andern großen Nationen, geehrt, bewundert, wenn auch nicht geliebt. Musste es da nicht als Undank, ja als Frevel erscheinen, auf irgendeinem Punkte an Ihm, der uns das alles geschenkt hatte, ja nur an einer einzigen seiner Maßnahmen zu zweifeln. Zugleich trat aber auch schon damals im ersten Jahrzehnt der Reichsgründung die Kehrseite hervor in dem plötzlichen Einbruch des Gründer- und Strebertums, in dem Niedergang aller Hochziele – das Wort Ideal war gar nicht mehr zu brauchen, es trug schon den Stempel des Veralteten, Abgestandenen. Die bewunderte Realpolitik des Großen, wie er sie unbedenklich auf die höchsten Belange der Nation anwandte, wurden von den Kleinen auf ihre kleinen persönlichen Geschäfte übertragen. Ein höheres Streben, das bedeutete jetzt das Streben nach hohen Posten und einträglichen Ämtern, nach Titeln und Orden. Damals regte sich aber auch schon ein ahnendes Missbehagen unter denen, die Geist höher schätzten als Macht und Geld; es begann teilweise eine wenn nicht politische, so doch kulturelle Abwendung unter der höheren Geistigkeit: manchen der besten Deutschen schien es, als hätten sie ihre geistige Heimat verloren. Der Hinweis auf den Beginn dieses Zustands in meiner Hermann-Kurz-Biografie veranlasste später meinen Freund Otto Crusius zu der brieflichen Bemerkung, dass er das gleiche verschwiegene Missgefühl auch bei Rohde und Nietzsche gefunden habe; er hätte auch Richard Wagner hinzufügen