bald den einen, bald den anderen durch anonyme Liebesbriefchen – gefährliche Fallen für Leichtgläubigkeit und Eitelkeit – zu irgendeinem unerreichbaren Stelldichein; ein Spiel, dessen sich dann meine Brüder in wilderer Form bemächtigten, um manchen harmlosen Biedermann durch geheimnisvolle Liebeserklärungen in sonderbare Abenteuer zu treiben. Am ausgesuchtesten setzte ich dem Begünstigten meiner Mutter zu, um ihn für den langen Druck einer unwillkommenen Werbung zu strafen. Er war ein Mensch von untadeligem Charakter und reinstem Streben, nur etwas unbeweglich und auf harmlose Weise ein klein wenig selbstgefällig, weil er sich eines weiteren Gesichtskreises bewusst sein durfte, als ihn der Durchschnitt der studentischen Jugend besaß. Er hatte mir wiederholt von einer französischen Dame erzählt, deren Bekanntschaft er auswärts gemacht hatte, und er gab dabei zu verstehen, dass es nur von ihm abhänge, in nähere Beziehungen zu ihr zu treten. Ich ließ ihm nun aus der Stadt, wo er sie kennengelernt hatte, ein beziehungsreiches französisches Brieflein zukommen, auf rosa Papier, ohne Unterschrift (weil ich ja den Namen nicht wusste), und sprach darin den Wunsch nach Wiederbegegnung in einem bekannten Hotel jener Stadt aus. Er kam mit strahlendem Gesicht, mir das Brieflein zu zeigen. Ich stellte mich ungläubig, äußerte die Vermutung, dass sich jemand einen Scherz erlaubt habe, was er nicht gelten ließ: weshalb sollte es denn nicht wahr sein, dass er einen Eindruck auf die Dame gemacht? Je mehr Zweifel ich äußerte, desto fester wurde er in seinem Glauben, wies auf Stellen des Briefes hin, die sich auf ein gemeinsames Gespräch bezogen (er selber hatte mir dieses Gespräch erzählt), und überdies versicherte er, dass in seiner ganzen Bekanntschaft niemand ein so gewandtes Französisch schreibe. Nun stellte ich mich überzeugt und riet ihm die Reise zu machen. Das aber wies er zurück, weil es nicht in seinen Lebensplan passe. Mehrere Tage dauerte das Spiel, bis Mama, die zwar versprochen hatte zu schweigen, es nicht mehr länger ertrug ihren Schützling eine unglückliche Rolle spielen zu sehen, ihm den Sachverhalt verriet und nun beide im Einverständnis versicherten, er habe den Trug von Anfang an durchschaut und mir nur den Spaß nicht verderben wollen. Ich lachte und ließ es dabei bewenden, denn ich wusste Bescheid. Guter, vortrefflicher Freund! Er hat mir weder sein langes vergebliches Warten noch die kleinen Krällchen, die er gelegentlich zu spüren bekam, je verargt, sondern mir, solange er lebte, unermüdlich die treuste, feurigste Ergebenheit bezeugt. Ich darf es überhaupt als großen Posten auf meiner Habenseite buchen, dass von all den jungen Herzen, die sich mir näherten, wenn ich ihnen auch nicht anders als durch schwesterliche Zuneigung vergelten konnte, doch keines jemals ganz sich von mir abwandte, sondern alle ihre Anhänglichkeit in das spätere Leben mit hinübernahmen, ja mehr als einer sie auf Kind und Kindeskind vererbte, wovon mir im langen Lauf der Jahre manches rührende Zeichen zukam. Hätte ich damals wählen können, so wie es bürgerliche Klugheit von allen Seiten riet, so würde ich mir unendliche Drangsal meines späteren Lebensganges erspart haben. Aber ich hatte einen untrüglichen Warnegeist, der mich anstieß, so oft ich in Gefahr war, einem Drängen von außen nachzugeben, und das spätere Leben hat die Warnungen von Fall zu Fall bestätigt. Mich verlangte nicht nach Geborgensein, nicht einmal nach dem landläufigen »Glücklichwerden«. Ich wollte mich selber erfüllen bis zur letzten Möglichkeit, sei es durch Freude, sei es durch Leid. Dass mir bei dieser Bereitschaft das Schicksal mehr von dem letzteren zuteilte, darf mich nicht wundernehmen. Meiner Mutter selber, so leidenschaftlich sie mich zu verheiraten strebte, ging es dabei auch nicht um die Versorgung, ein Wort, das sie ebenso verabscheute wie ich; sie wollte nur den von ihr Vorgezogenen für seine Übereinstimmung mit ihren politischen und philosophischen Anschauungen durch die Hand ihrer Tochter belohnen. – Wir Kurzischen waren samt und sonders keine Erwachsenen im heutigen Sinn: wir waren wie die Dinge der Natur, denen nach Rilke »ewige Kindheit glückt«. Der Mutter glückte sie noch am allerbesten. – Ich sah einmal ein armes Schwälblein sich in einer großen Glasveranda verfliegen und durch alle Scheiben, zu denen Wald und Wiesen hereinsahen, gewaltsam den Ausweg suchen, bis es zerschlagen, ohnmächtig zu Boden fiel –, so ähnlich wäre mein Schicksal gewesen, wenn ich damals oder später den Ratschlägen der bürgerlichen Klugheit Raum gegeben hätte.
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So lebte sich’s in meinem Elternhause um mindestens zwei Zeitgeschlechter der Zeit voraus, aber in einer inneren Kindheit, die keiner Zeit angehörte; ohne Zwecksetzung, ohne Zukunftssorgen, ganz wie die Lilien auf dem Felde in die salomonische Herrlichkeit der Jugend gekleidet. In Kameradschaft mit dem männlichen Geschlecht und fast ohne Kenntnis des eigenen, wusste ich auch kaum von den Vorurteilen, die ich durch mein Dasein verletzte. Aber sobald ich den Fuß auf die Straße setzte, war ich in Feindesland. Warum war nur alles so aufreizend, was ich tat oder ließ, dass sich, wo immer ich erschien, alsbald Märchen um mich spannen, die mich in die Nähe mittelalterlichen Hexenwahns stellten? Es war ja nicht das Studium der klassischen Sprachen allein, was mir die Verfehmung zuzog: in der Stadt lebte ein anderes junges Mädchen, das bei seinem Vater, einem Gymnasialprofessor, Latein und Griechisch trieb und dem die Abweichung von der Norm niemand übelnahm. Auch das Reiten kann trotz dem Anstoß, den es erregte, nicht dafür herangezogen werden, denn der Hass ging viel weiter, ging bis auf meine Kindertage zurück. Aus welchem dunklen Urgrund stieg die fast tragische Dichtigkeit auf, die ein so junges, kaum aus dem Ei geschlüpftes, unschuldiges Wesen umgab, dass es für die dumpfen Gôgenköpfe »der unteren« Stadt und für die engen kleinbürgerlichen der »oberen« fast wie eine Erfindung des Satans, eine heidnische Verlockung, wenn nicht gar als eine Gefahr für das Gemeinwesen umherging? Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass dieses Heiden- oder Hexenkind im Fall einer öffentlichen Kalamität – sei es ein Misswachs oder ein Viehsterben – abergläubischer Pöbelwut hätte zum Opfer fallen können.
Erst jetzt aus der großen Zeitenferne kann ich das Geheimnis vollends ganz entziffern: dass alle die Feindschaft ja gar nicht mir, meiner eigenen unflüggen Person gelten konnte, sondern der auf eine höhere und freiere Menschlichkeit gerichteten Weltanschauung meiner Eltern. Aber jene westen in einer unsichtbaren Gedankenwelt, ich war deren sichtbare Erscheinung, das leibhaft gewordene Symbol, und Symbole zerschlägt man, wenn, was sie ausdrücken, unschädlich gemacht werden soll. Aller Hass und alle Liebe floss aus dieser Quelle; lauter, unsinniger Hass und eine häufig stumme aber dauernde Liebe. Der von der studierenden Jugend eine poetische Ader hatte, der brachte mich, meine Griechenverehrung, meinen Schönheitskult in Verbindung mit der Welt Hölderlins, der auf unserem Friedhof schlief, nur von Auserlesenen