Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky

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Название Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte
Автор произведения Kurt Tucholsky
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954185214



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zu fahren. Wenn das niemand merkt! Aber es merks niemands – paß mal auf, es merks niemand.«

      »Ne quis animadvertat! Prost.«

      »Weißt du, lieber reise ich mit einem Flohzirkus wie mit dir.«

      »Als, Claire, als mit dir.«

      »Ach Gott, konnste auch besser mir nicht zu bekorrigieren zu gebrauchs gehabs habs! Ich spreche dir das schiere Hochdeutsch!«

      »Hm. – Eingeweihte wissen davon Kantaten zu singen. Trinkst du noch was?«

      »Ob ich noch wen trinke? – Nö.«

      »Ich finde, wir gehen noch ein bißchen, hä?«

      Sie schlenderten durch den dunklen Ort. Nach langen, schwarzen Häuserstrecken kam eine Bogenlampe, umschwirrt von surrenden braunen Flecken. Insekten, die durchaus in das Licht gelangen wollten.

      »Claire?«

      »Wölfchen?«

      »Die Tiere da oben, siehst du?«

      »Ja.«

      »So auch der Mensch.«

      Sie blieb stehen.

      »Wieso… bitte?«

      »Wie jene Lebewes…«

      »Bitte – was hier zu symbolisieren is, symbolisier ich mir alleine. Überhaupt mußt du schlafen gehen. Du sprichst ja schon ganz… anders. Soll ich dir aufs Aam nehmen?«

      »Buhle!«

      An dunklen Fensterläden kamen sie vorbei und an langen Mauern; hinter rötlich beleuchteten Gardinen saßen Familien und spielten Karten… Einmal traten sie in einen Hof, stolperten über Pflastersteine und blickten durch ein Fenster in einen Saal.

      Drinnen spielten sie Theater.

      Von der Bühne sah man nur einen kleinen, gelben, hellen Winkel; aber man hörte alles. »Hoho«, sagte eine überlaute Frauenstimme im Alt, »da werden wir meinen Schwager fragen müssen. Ah, da kommt er ja…«

      Das Publikum schnaufte und zuckte wie eine vielköpfige Bestie im Dunkel. Man sah Schultern sich bewegen, Köpfe sich hin- und herwenden…

      »Himmel, der Fritz«, kreischte jemand auf der Bühne, und die Menge der Theaterbesucher lachte, ihre Körper tauchten auf und nieder, man murmelte…

      »Wie merkwürdig«, sagte Wolfgang, »draußen ist es totenstill, der Mond scheint, und hier drinnen spielen sie ein Scheinleben. Und wir kommen hinzu, wissen nichts von den Voraussetzungen des ersten Akts und bleiben ernst.«

      Es war still, der hell erleuchtete Winkel der Bühne blieb leer; einer mußte wohl eine zum Lachen reizende Geste gemacht haben, denn jetzt lachten die Frauen hell kreischend, während die Männer beifällig grunzten. Sie beugten sich weiter vor, man konnte undeutlich und durch das Fensterglas verschoben den übrigen Teil der Bühne erkennen, der eine Zimmereinrichtung mit gelber Tapete und gemalten Einrichtungsgegenständen darstellte; ein Mann in grüner Schürze hielt dort oben Zwiesprache mit einer robusten Weibsperson in den Vierzigern. Als Souffleurkasten diente ein alter Strandkorb. Sie hörten die beiden sagen:

      »So. Er soll hier reinemachen (in der Tat hielt der Mann einen Besen in der Hand), und statt dessen scharwenzt Er mit den Mädels! Paß Er nur auf, Er Liederjahn.« – Hier kicherte das Publikum. – »Ich werde Ihm die Suppe schon versalzen. Hier und hier und da und da!«

      Das Publikum lachte: »Hoho!« und oben bekam der Mann, der bis dahin mit gutgespielter Teppenhaftigkeit den Kopf beflissen-horchend geneigt hielt, einige patschende Schläge ins Gesicht… In diesem Augenblick trat ein junges Mädchen auf die Bühne, und hier nahm die Heiterkeit des Publikums einen so beängstigenden Grad an, daß die beiden unwillkürlich vom Fenster zurückfuhren.

      »Der erste Akt!« seufzte er. »Uns fehlt der erste Akt!«

      »So ein kleiner Junge, will sich das Theater besehens! Marsch zu Bett!«

      Und sie gingen.

      Als sie die Treppe hinaufkletterten, hörten sie noch das lachende Lärmen der angeregten Honoratioren.

      »Claire, belustigen sich die ackerbautreibenden Bürger über uns? – Ich bin fürchterlich in meiner Wut.«

      »Ja, mein Jungchen. Nu geh man zu Bett.«

      Ihre großen, breitschultrigen Schatten tanzten an der Wand, weil die Kerzenflamme tanzte… Die Claire stand vor dem Spiegel und löste ihre Haare auf.

      »Wölfchen, paß ma auf; da war ich noch ’n kleiner Mädchen, un da bin ich bei meine Freundin, die Alice, gegangen – heb mir doch mal die Nadel auf! – und da war ein Herr, wie er hieß, weiß ich nicht mehr, und der hat gesagt, mein Haar ist wie aus Seide gesponnen. Ja.«

      »Na – und–?«

      »Nüchs.«

      Die Claire liebte es, Geschichten zu erzählen, die, ohne Pointe, kleine, anspruchslose Begebenheiten ihrer Kindheit enthielten. Sie verlangte, daß man sie sich oft anhöre, und wurde zornig erregt bei dem Einwand, man kenne dies.

      »Du bist gar nicht freundlich zu mir. Du liebst mich nicht mehr.«

      Einem seelischen Chamäleon gleich, bot sie nun den Anblick einer Liebeskranken. Der Mund war schmerzlich verschoben, der Oberkörper leicht geneigt, die Hände krampften sich.

      »Ich meinerseits liege im Bett«, sagte er. Die Kerzenflamme verlosch…

      Unten schwatzte das Wirtshauspublikum. Man hörte, wie der Wirt seinen Rundgang bei den Tischen veranstaltete:

      »Nun, auch die Frau Schwester wieder gesund? – Ja, ja, so geht’s. Hat es den Herrschaften geschmeckt? Ja…«

      Oben aber sagte Claire gedankenvoll, langsam:

      »Ich möcht dir nu nehmen und einem in sein Gulasch werfen. Seh mal, er wundert sich bestimmt, Wie–?«

      Aber dann schwieg sie.

*

      In der Nacht wachte er auf. Vorsichtig bauschte er den Vorhang, der weiß und fältig am Fenster leise vom Nachtwind bewegt war. Der Mond gespensterte in den Bäumen, ein Obelisk stand seitwärts drohend da und warf einen scharfen Schatten. Das Laub rauschte auf. Warum reagieren wir darauf wie auf etwas Schönes, fühlte er. Es ist doch nur ein durch Schallwellen fortgepflanztes Geräusch… Und überließ sich gleich darauf willenlos diesem ruhigen Rauschen, das ein wenig traurig war, aber Hohes ahnen ließ und die Brust weiter machte… Er fuhr herum. Eine ganz verschlafene Kinderstimme sagte unter einem Wasserfall von Haaren:

      »Is niemand in mein klein Bettchen, und soll aber jemand da sein, und Klein-Clärchen is ganz allein…«

      Er trug sie zurück.

*

      Als er früh am Morgen vom Friseur zurückkam, war die Claire am Aufstehen. Es war das so eine Sache: die erste Viertelstunde pflegte sie mit feiner Stimme ein entzückend klingendes Gemurmel zu stammeln, unzusammenhängende Silben hervorzubringen und in den verschiedensten Nachahmungen von Tierstimmen zu paradieren. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, so begrüßte ihn das Winseln und Mauen einer neugeborenen Katze.

      »Aufstehen! Claire! Aufstehen! Alle Leute sind schon nach Tisch.«

      Man mußte ein wenig übertreiben – es half sonst nichts.

      »Buh!«

      »Ja, ich weiß. Komm!«

      Und zog ihr die Bettdecke fort.

      Später:

      »Wölfchen, zieh ich nu das Grüne oder das Weiße an?«

      »Hm, welches möchtest du denn gerne anziehen?«

      »Das… das weiß ich nicht. C’est pourquoi ich dich frage.«

      »So zieh denn das Weiße an.«

      »Schön. Was dieser Junge mich tyrannisiert, das ist nicht zu sagen. Haach!«

      Pause.

      »Wolfgang?«

      »Claire?«

      »Meinst