Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi

Читать онлайн.
Название Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi
Автор произведения Leo Tolstoi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027211456



Скачать книгу

Nikolai Rostow beobachtete ohne Verzweiflung die Vorgänge. Wenn man ihn gefragt hätte, was er über die jetzige Lage Rußlands denke, so würde er gesagt haben, darüber habe er nichts zu denken, dafür sei Kutusow und die anderen da, und man werde sich wahrscheinlich noch lange schlagen, und unter den jetzigen Umständen werde er wohl in zwei Jahren ein Regiment erhalten. Darum empfand er keine Betrübnis darüber, daß er zur Remonte nach Woronesch kommandiert worden war. Einige Tage vor der Schlacht bei Borodino hatte er Geld und Papiere erhalten und war mit Postpferden nach Woronesch gefahren. Er war freudig erregt, besonders beim Anblick von jungen Damen, die nicht von Dutzenden von Offizieren umschwärmt waren und sich geschmeichelt fühlten, wenn der durchreisende Offizier mit ihnen scherzte. In heiterster Stimmung kam Rostow in Woronesch im Gasthof an und fuhr am folgenden Morgen rein gekleidet und rasiert, in der besten Uniform, die er lange nicht mehr angelegt hatte, aus, um sich den Vorgesetzten vorzustellen.

      Der Vorsteher des Militärbezirks war ein alter Beamter, dem sein jetziger kriegerischer Beruf und Rang augenscheinlich großes Vergnügen gewährte. Von diesem fuhr Nikolai zum Gouverneur, einem kleinen, lebhaften, sehr freundlichen Herrn. Dieser gab Nikolai Andeutungen, wo er Pferde erhalten könne, empfahl ihm Pferdehändler und Gutsbesitzer auf zwanzig Werst im Umkreis und versprach seine freundliche Mitwirkung.

      »Sie sind ein Sohn vom Grafen Ilin Andrejewitsch? Meine Frau war sehr befreundet mit Ihrer Frau Mutter. Donnerstag ist bei uns Gesellschaft, heute ist gerade Donnerstag, und ich hoffe, Sie bei uns zu sehen.«

      Sogleich darauf nahm Nikolai ein Fahrzeug und fuhr mit seinem Wachtmeister in der Umgegend umher. Nachdem er einige Einkäufe gemacht hatte, kehrte er sehr vergnügt zur Stadt zurück, trieb beständig den Kutscher an, um die Abendgesellschaft beim Gouverneur nicht zu versäumen. Es war nicht gesagt worden, daß getanzt werden solle, aber jedermann wußte, daß Katharina Petrowna Walzer und Ecossaise spielen werde, und deshalb rechneten alle darauf, daß getanzt werde, und kamen in Balltoilette. Die Stadt war belebter als sonst, infolge der Ankunft vieler reicher Familien aus Moskau, und die beste Gesellschaft der Stadt versammelte sich beim Gouverneur. Es waren viele Damen zugegen, Nikolai traf auch einige Bekannte aus Moskau, aber es fehlte an Herren, und es war niemand da, der als Rivale des wohlerzogenen Grafen Rostow, des Georgenritters, gelten konnte. Unter den Herren war auch ein gefangener Italiener, ein französischer Offizier, und Rostow fühlte, daß die Anwesenheit dieses Gefangenen seinen Glanz als russischer Held noch erhöhte, und deshalb benahm er sich gegen diesen Offizier mit besonderer Würde.

      Sobald Nikolai in seiner Husarenuniform, welche Wohlgerüche verbreitete, in den Saal trat, richteten sich alle Blicke auf ihn, und er bemerkte sofort, daß er die angenehme, jetzt aber nach langen Entbehrungen berauschende Stellung eines allgemeinen Lieblings einnahm. Damen und Fräulein kokettierten mit ihm, und ältere Persönlichkeiten dachten schon vom ersten Tag daran, wie man diesen flatterhaften Husaren verheiraten und zu einem gesetzten Leben bekehren könne. Zu diesen letzteren Persönlichkeiten gehörte auch die Gouverneurin selbst, welche Rostow als Neffen aufnahm und einfach mit Nikolai und »du« anredete.

      Katharina Petrowna spielte wirklich Tänze, und der Tanz begann, bei welchem Nikolai durch sein gewandtes Benehmen die ganze Gesellschaft noch mehr einnahm. Alle waren erstaunt über sein ungezwungenes Wesen beim Tanze. Nie zuvor hatte er in Moskau so getanzt und würde das sogar für schlechten Ton gehalten haben, hier aber fühlte er die Notwendigkeit, alle durch etwas Ungewöhnliches in Verwunderung zu setzen.

      Während des ganzen Abends widmete er seine Aufmerksamkeit am meisten einer taubenäugigen, vollen, hübsch aussehenden Blondine, der Frau eines Beamten, mit jener naiven Überzeugung junger Leute, daß fremde Frauen für sie geschaffen seien. Ihr Mann schien aber diese Überzeugung nicht zu teilen und zeigte Rostow eine finstere Miene. Nikolais gutmütige Naivität war jedoch so grenzenlos, daß auch der Mann zuweilen sich der heiteren Stimmung Nikolais hingab.

      210

       Inhaltsverzeichnis

      Nikolai saß neben der Blondine und sagte ihr mythologische Komplimente. Er erzählte ihr, er beabsichtige hier in Woronesch eine Dame zu entführen.

      »Was für eine Dame?«

      »Eine entzückende, göttliche! Ihre Augen sind« – Nikolai betrachtete die Dame – »blau, ihr Mund wie Korallen, ihre Hautfarbe –« er blickte nach ihren Schultern – »und ihre Gestalt sind die der Diana.«

      Der Mann näherte sich und fragte die Frau mürrisch, wovon sie sprechen.

      »Ach, Nikita Iwanitsch!« rief Nikolai, indem er höflich aufstand, und erzählte auch dem Manne von seiner Absicht, eine blonde Dame zu entführen. Ihr Mann lächelte finster, die Frau aber heiter. Die gutmütige Gouverneurin näherte sich der Gruppe.

      »Anna Ignatjewna will dich sehen, Nikolai.«

      »Wer ist das, Tantchen?«

      »Anna Malwinzew, sie hat durch ihre Nichte von dir gehört, die du gerettet hast. Errätst du nun?«

      »Wer weiß, wen ich gerettet habe«, erwiderte Nikolai.

      »Ihre Nichte, die Fürstin Bolkonsky! Sie ist hier in Woronesch bei ihrer Tante. Oho, wie er errötet!«

      Die Gouverneurin führte ihn zu einer hochgewachsenen, sehr dicken, alten Dame, welche eben ihre Kartenpartie mit den Größen der Stadt beendet hatte. Das war eine Tante der Fürstin Marie mütterlicherseits, eine reiche, kinderlose Witwe, die beständig in Woronesch wohnte. Als Nikolai nahetrat, betrachtete sie ihn ziemlich hochmütig.

      »Sehr erfreut, mein Lieber«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Die Dame sprach von der Fürstin Marie, von ihrem verstorbenen Vater, dem sie wenig gewogen schien, und fragte nach dem Fürsten Andree, welcher augenscheinlich auch nicht ihre Gunst besaß. Dann entließ sie ihn mit der Einladung, sie zu besuchen.

      Nikolai versprach das errötend. Bei dem Gedanken an die Fürstin Marie empfand Rostow ein ihm unerklärliches Gefühl der Befangenheit. Rostow wollte in den Tanzsaal zurückkehren, aber die kleine Gouverneurin führte ihn in ein Nebenzimmer, welches die darin anwesenden Personen sogleich verließen, um die Exzellenz nicht zu stören.

      »Weißt du, mein Lieber«, begann sie im ernsten Ton, »das wäre eine Partie für dich! Wenn du willst, so werde ich sie zustande bringen.« »Welche Partie, Tantchen?« fragte Nikolai.

      »Mit der Fürstin. Willst du? Ich bin überzeugt, daß deine Mutter mir dafür dankbar sein wird. Und sie ist durchaus nicht so häßlich.«

      »Durchaus nicht«, wiederholte Nikolai.

      »Nun also, besinne dich! Das ist kein Spaß. Und noch etwas, mein Lieber, du machst der Blondine zu viel den Hof. Der Mann nimmt das übel.«

      »Ach nein, wir sind ja Freunde«, sagte Nikolai. Er hatte keine Idee davon, daß dieser Zeitvertreib den Mann wenig belustigen könne.

      »Nun, überlege dir die Sache«, sagte sie.

      »Ich muß Ihnen sagen, Tantchen«, begann er, indem er sie zur Seite führte.

      »Was gibt es, mein Lieber? Wir wollen uns hier setzen.«

      Nikolai empfand plötzlich den Wunsch, alle seine verborgensten Gedanken, die er selbst seiner Mutter und Schwester verschwieg, dieser beinahe fremden Dame mitzuteilen. Als Nikolai sich später an diesen durch nichts hervorgerufenen Ausbruch von unerklärlicher Aufrichtigkeit erinnerte, schien es ihm, wie es den Leuten immer erscheint, daß das nur eine einfältige Anwandlung gewesen sei. Aber diese Aufrichtigkeit hatte mit anderen kleinen Ereignissen zusammen für ihn und seine ganze Familie wichtige Folgen.

      »Nun sehen Sie, Tantchen, Mama will schon lange, ich soll eine reiche Partie machen, aber der Gedanke, nach Geld zu heiraten, ist mir widerlich.«

      »O ja, ich verstehe«, sagte die Gouverneurin.

      »Aber die Fürstin Bolkonsky, das ist etwas anderes! Ich gestehe Ihnen, daß sie mir sehr gefällt,