Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl

Читать онлайн.
Название Menschen, die Geschichte schrieben
Автор произведения Christine Strobl
Жанр Документальная литература
Серия marixwissen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783843804271



Скачать книгу

Komponist vieler Kirchenlieder gewesen sei. Vielleicht würde der eine oder andere aus der dargestellten Situation eines Festtagsschmauses auch schließen wollen auf den angeblichen Lutherausspruch, den wir alle kennen: „Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang“, um Luther mithin zu interpretieren als den gemütlichen Alleinunterhalter beim Streitgespräch zwischen Calvin und dem Papst. Dass letzteres nicht gemeint sein kann, belegt ein fast zeitgleiches illustriertes Flugblatt, das 1619 realistischer darstellt, was es mit den „Geistlichen Raufhändeln“ jener Tage auf sich hat: Luther zieht Calvin am Bart, während der Papst sich die Ohren zuhält. Die Redensart von Wein-Weib-Gesang stammt zwar aus dem 16. Jahrhundert und war in Varianten seitdem weit verbreitet, ist aber als ein „Sinnspruch Luthers“ erst seit dem späten 18. Jahrhundert ausgegeben worden.

image

      Die drei Konfessionen in Frau Ratios Küche; Kupferstich, niederländ., um 1590

      Ebenfalls erst in Ansätzen aus dieser Zeit vor gut zweihundert Jahren stammt unsere durch jugendbewegtes Singen und Kindergottesdiensterfahrung bestimmte positive Assoziation vom Klampfe spielenden Luther. Deutlicher stehen für jene optischen Vorstellungen die Illustrationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Kreisen der Inneren Mission, wo Luther unter dem zu seiner Zeit noch unbekannten Weihnachtsbaum die Laute schlägt oder gar die Augustinerbrüder ihn im Kloster mit Lautenspiel aufzuheitern suchen. Letztere Vorstellung schließt an einen versteckten Hinweis aus den lateinischen Tischreden, dass sich der Student Luther in Erfurt auf dem Krankenlager selbst das Lautenspiel beigebracht habe2: Man darf sich das lediglich als privates Hilfsmittel zur Vorbereitung und Weitergabe für den von ihm so geschätzten und seit Kindertagen gepflegten geistlichen Gesang vorstellen, eine Art von Komponierhilfe, jedoch die Laute nicht als Begleitinstrument in der Kirche. Eine andere Erzählung in den Tischreden unter dem deutschen Titel „Eine laute zur meß“ berichtet vom pflichtgemäßen Terminieren, also vom Almosensammeln, des jungen Bettelmönchs in den Dörfern um Erfurt, wo er bei dieser Gelegenheit auch die Messe hielt. In der deutschen Übersetzung späterer Ausgaben heißt es: „da fing der Kirchner an das Kyrieleison und Patrem auf der Lauten zu schlagen, da konnt ich mich schwerlich des Lachens enthalten“, „den ich solcher orgeln nicht gewonnet war; mußt mein Gloria in excelsis nach seinem Kyrie richten!“3

      Einer der heftigsten und durch seine Schriften einflussreichsten zeitgenössischen Luthergegner, Johannes Cochläus (1479–1552) aus dem Nürnberger Humanistenumkreis, hat in seinen 1533/34 begonnenen und 1547 in Eichstätt als Dozent der Domschule vollendeten, 1548 erstmals erschienenen Commentaria de actis et scriptis M. Lutheri behauptet, er habe 1521 den Reformator auf dem Weg zum Reichstag in Worms beim Pferdewechsel in einem Frankfurter Wirtshaus beobachtet, wie er dort die Leute durch Gesang zur Laute als ein „Orpheus in Kutte“ begeisterte. Das stellt zunächst nur ein typisches Erzählmotiv der katholischen Antilegende dar, das den späteren sogenannten „Nonnenschänder“ und sogenannten „Säufer“ von Anfang an als sündhaften Weltmenschen entlarven sollte. Cochläus, der weitgereiste Doktortheologe, Kölner Professor und Luther intellektuell ebenbürtige Humanist, der 1520–25 am Frankfurter Liebfrauenstift wirkte, hatte den Reformator in Worms geradezu umworben für einen Widerruf. Sein späteres Frankfurter Wirtshaus-Märlein war ihm gewiss nur zugetragen worden, und er verwendete es als rhetorisches Versatzstück weiter, weil es so gut in die nach 1525 üblich werdende psychologische Vitendeutung passte. Cochläus selbst war durch seine Schrift von 1507 ein bedeutender Musiktheoretiker der Zeit, dem darum das Exemplum einleuchtend für das polemische Argumentieren scheinen konnte. Eine weitere Verbreitung des Erzählmotivs ist allerdings nirgends belegt, doch wird hier die negative Konnotierung der Laute im Zusammenhang mit geistlichem Gesang nochmals deutlich.

      Gerbers Tonkünstlerlexikon von 1790 suchte erstmals den Musicus Luther genauer in den Blick zu nehmen und vermerkt dort bezeichnenderweise: „Noch mehr Verdienst als praktischer Tonkünstler käme ihm nach Mattheson zu, welcher uns in seinem Plus ultra verspricht, in einem seiner künftigen Werke darzuthun, dass Luther auch die Laute gespielt habe“4. Diese Aussage spricht entgegen heutiger Meinung gerade nicht dafür, dass Luther tatsächlich als Lautenspieler dem 16. Jahrhundert bewusst gewesen ist. In der modernen Musikwissenschaft steht zwar die Bedeutung Luthers und des Luthertums für die Kirchenmusik und die Musikpflege nicht in Frage, aber es hat Diskussionen über den Realitätsgehalt der Luther zugeschriebenen Anlage und Fähigkeit zum Komponisten, sprich Melodisten gegeben. Brockhaus/Riemann fasst das 1995 wie folgt zusammen: „Erst die jüngere Forschung hat aus der Erkenntnis der spätmittelalterlichen Musikanschauung Luthers Musikertum in seine Rechte gesetzt“5, nämlich die eines Liedkomponisten in herkömmlichen Gewohnheiten. Das heißt, auch hier mussten erst die Imaginationen des 19. Jahrhunderts hinterfragt werden, um schließlich eine mehr mittelalterliche Traditionslinie des Kirchengesangs erkennen zu können.

      Was also bedeutet die Laute auf unserem Gemälde um 1600? Die Darstellung beruht auf einem Kupferstich aus der Zeit vor oder um 1590, von dem es auch eine seitenverkehrte Fassung mit deutscher Übersetzung der niederländischen Texte gibt. Das Geschehen spielt in der „Küche von Frau Ratio“. Sie wirbt für eine Religion des Herzens gegen die in den einst spanischen Niederlanden kriegerischen Machtansprüche der Katholiken, die hier nicht durch den Papst, sondern einen Papisten vertreten sind. Luther mit der Laute steht sozusagen als Mittelfigur zwischen den beiden besonders verfeindeten Lagern. Die Texte des Flugblatts lösen die dargestellten Details in emblematische Zeichen als etymologisches Spiel mit der niederländischen Sprache auf.

      Sie stammen aus einem satirischen Theaterstück mit damals üblichem Dialogaufbau in der Art und aus dem Umkreis des holländischen Dichters Dirck Volckertsen Coornhert (1522–1590). Sein gelehrter Freundeskreis „Haus der Liebe“ formulierte seit 1579 Toleranz und Frieden gleichermaßen gegen die fremdländischen Päpstlichen wie gegen den heimatlichen Kirchenvater Calvin. Hier sitzt Luther auf dem Mittelplatz und macht die Musik, während Calvin mit Kalbsbraten und Orange sowie ein zipfelmütziger Katholik mit Rosenkranz am Riemen und dem Papstsignet auf der umgebundenen Serviette sich streng getrennt gegenübersitzen, letzterer mit falschen Katzen auf seinen Schultern, die nicht mehr lecken mögen (= catten likken) von dem Brei in seiner Schüssel (= pap). Die Attributionen stammen aus niederländischen Wortspielen für die Katholiken und den Papst sowie die Namen Luther (= luyt teer) und Calvin (= calf fijn). Die vielen Anspielungen auf die damals aktuellen Auseinandersetzungen in den Niederlanden lassen die Blätter als akademisches Bilderrätsel oder als Programmzettel der Bühnendialoge erscheinen. Ein Gemälde von 1659 zeigt in der Tat die Mitglieder einer solchen Rhetorikgesellschaft in ihrer Rederijkerkammer dieses Stück spielen, wobei wiederum Kostüme und Attribute auf die einzelnen Gestalten verweisen, so dass Luther an seiner Laute genau erkennbar ist.

      Fazit: Auch im Französischen lässt sich aus Luther leicht Luthier bilden, was Lautenmacher heißt, Luthierie Saiteninstrumentenfabrik. Wir haben es dabei mit der mittelalterlichen Methode des Etymologisierens aus den Eigennamen zu tun, wie es Isidor von Sevilla vorexerzierte und Jacobus de Voragine in seiner Legenda aurea durchgehend praktizierte, zu Beginn jeder Heiligenvita. Die katholische Antilegende Luthers las darum im 16. und 17. Jahrhundert aus Luthers Namen den „Lotterbuben“ oder das „Luder“ heraus. Für unseren Zusammenhang bleibt wichtig festzuhalten: Luthers Laute hatte damals in der öffentlichen Meinung noch nichts mit seiner Liebe zur Musik zu tun, sondern bedeutete im engeren Umkreis humanistischer Irenik lediglich das sprechende Erkennungszeichen für jenen erwünschten Dialog.

      DER SCHWANENGLEICHE PROPHET LUTHER

      Unter Luthers Glaubensanhängern gab es für die ersten drei Jahrhunderte bald ein kanonisiertes religionspolitisches Attribut seiner bildlichen Darstellungen, besonders beliebt in Kupferstichen und verbreitet zu den Reformationsjubiläen, aber auch in Öl für die üblich werdenden Luthergemälde in protestantischen Kirchen. Dort ist sein Bild neben den Emporen- und Aposteldarstellungen zu finden, Luther sozusagen als fünfter Evangelist. Zu Füßen des Reformators befindet sich oft ein weißer Schwan (s. Abb. S. 36). Heutzutage wird das Tier bisweilen falsch verstanden: als Gans, wegen des brauchtümlichen Gansbratens auf Martini,