Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl

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Название Menschen, die Geschichte schrieben
Автор произведения Christine Strobl
Жанр Документальная литература
Серия marixwissen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783843804271



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David 2004: The World of Christopher Marlowe, London.

      Yates, Frances 1991 [1979]: Die okkulte Philosophie im Elisabethanischen Zeitalter, übers. v. Adelheid Falbe, Amsterdam.

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      „Hier schau Lutherum an, den großen Wunderhelden“, dargestellt mit Schwan; Augsburger Kupferstich von 1730

      LUTHER – HEILIGER MANN ODER FALSCHER PROPHET?

      Legende und Antilegende zwischen 1517 und 1630

      von Wolfgang Brückner

      VORÜBERLEGUNGEN

      Über Luther-Imaginationen in der Geschichte zu sprechen, scheint einfach und ist doch schwer, weil unsere heutigen, erst zweihundert Jahre alten Bilder des deutschen Reformators zunächst einmal alles zudecken, was dreihundert Jahre zuvor von ihm und über ihn tradiert wurde, was die Menschen von ihm dachten und wie sie sich sein Wesen und seine Erscheinung vorstellten. Die Erwartungshaltung eines heutigen breiten Publikums, das die Gestalt Luthers als Thema in den Bann zieht, lässt sich nicht ohne weiteres einschränken auf eine Beurteilung aus dem Blickwinkel der hier zur Debatte stehenden Epoche zwischen 1450 und 1620, die geistesgeschichtlich ganz allgemein als Zeitalter der Renaissance benannt zu werden pflegt. Danach müsste jetzt gemäß landläufiger Bildungsmeinung zuvorderst von der sogenannten Erfindung des Individuums, das heißt einer Idee davon, die Rede sein und dem Anteil Luthers und seiner Theologie daran; und mancher wird erwarten, seine Meinung vom vermeintlichen Schöpfer der deutschen Hochsprache bestätigt zu finden oder die eines „Musikus der deutschen Nation“. Doch das wäre genau jene Rückschau aus dem 19. Jahrhundert und seinen Präferenzen für sogenannte Genies in Kunst, Politik und Religion. Max Webers weiterführende Unterscheidung von populärer Massenreligiosität und elitären Frömmigkeits-Virtuosen, z. B. mystischen Theologen, verweist uns über Friedrich Schleiermachers entsprechende Begrifflichkeit auf den ästhetischen Anspruch hochkultureller Standards in akademischen Diskursen, die sich dann in anspruchsvollen Feuilletons spiegeln. Es gilt mithin, viel Ballast an allgemeinem Meinungsvorwissen abzuwerfen.

      Die Fachhistoriker sprechen nicht ohne regionale Einschränkungen und damit zeitliche Differenzierungen von Renaissance als einer bestimmten Epoche, noch lieber – völlig abstrakt – vom ersten Teil der Frühen Neuzeit, in der sich in Mitteleuropa die modernen Territorialstaaten innerhalb des Reichsverbandes rechtspolitisch konsolidierten. Die akademische Disziplin der Deutschen Philologie teilt diesen Zeitraum bisweilen einer Mittleren Literaturgeschichte zu, deren Bearbeitung zwischen Alt- und Neugermanistik lange Zeit wie ein Niemandsland behandelt worden ist, das man eher der Theologiegeschichte oder den seltenen Volkskundlern und in Teilen den wenigen Neulateinern an den Universitäten überließ. Das traditionelle Bildungswissen aus den humanistischen Gymnasien des 19. Jahrhunderts besaß feste Überzeugungen, so dass in Deutschland jedermann Bescheid wusste, was im frühen 16. Jahrhundert offenbar ‚wirklich‘ geschehen war. Danach ging 1517, wie beim Kreuzestod Jesu in den biblischen Berichten, ein großer Riss durch den Vorhang des Tempels der Weltgeschichte und teilte für uns Deutsche Mittelalter und Gegenwart auf einen Schlag. Und dies passierte an der Schlosskirchentür zu Wittenberg durch einen Nagel hämmernden jugendlichen Augustinermönch, so noch in dem jüngsten, hochgelobten Film von Eric Till zu bewundern. Doch weder hat es diese Szene in der realgeschichtlichen Vergangenheit gegeben, noch ist das Mittelalter damals zu Ende gegangen.

      Die tatsächliche geschichtliche Zäsur dafür liegt bei uns zwischen 1790 und 1820. Zu jener Spätzeit aber war Luther selbst als Theologe eine rein historische Gestalt geworden, und seine Schriften bildeten keine die zeitgenössische Theologie mehr stimulierend beherrschende Lektüre. Seine Wiederentdeckung als religiöser Denker geschah erst im Gefolge der theologischen Luther-Renaissance seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dessen Beginn konnte er daher zu einer vorrangig nationalen Figur stilisiert werden, besonders seit 1817, dem Jahr des dreihundertsten Jubiläums der Reformation, unter anderem mit dem Wartburgfest.

      Damals lagen zu Wittenberg, das nun samt Eisleben und Erfurt dem calvinistischen Hause Hohenzollern zugehörte, die Erinnerungsstätten in Trümmern oder waren verwahrlost durch Kriegszerstörungen des 18. Jahrhunderts. Jetzt, nach der 1817 staatlich verordneten Kirchen-Union wurde die ausgebrannte Schlosskirche in allerhöchstem Auftrag des preußischen Königshauses historistisch rekonstruiert. Gleichzeitig fand die neugotische Erfindung der persönlichen Gedenkorte im einstigen Augustinerkloster zu Wittenberg statt. Luther erhielt dort auf dem Marktplatz sein erstes Frei-Denkmal durch Gottfried Schadow und Friedrich Schinkel 1821, dem bald hunderte deutschlandweit folgen sollten. Es war ganz generell der Beginn des bürgerlichen Denkmalkultes in Mitteleuropa; davor besaßen nur Fürsten und Feldherren Auftrittsrecht im öffentlichen Raum. Als Beispiel für die Popularisierung möge ein optisches Zeugnis des Biedermeier dienen: eine Porzellantasse der Berliner Manufaktur von 1830 mit der Miniatur des Wittenberger Lutherdenkmals für ein „protestantisches Deutschland preußischer Nation“, wie Thomas Mann später formulieren sollte.

      Wir müssen also zurück zum Theologen Martin Luther im 16. Jahrhundert, und zwar nicht so sehr zu seiner Theologie als Lehrgebäude im Unterschied zur damaligen Papstkirche, sondern vielmehr zu seiner Gestalt als Symbol für die in unseren Tagen zwischen Rom und Lutherischem Weltbund nicht mehr umstrittene Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana invariata von 1530. Benedikt XVI. hat 2005 in Köln öffentlich formuliert: „Gemeinsam bekennen wir Jesus Christus als Gott und Herren; gemeinsam erkennen wir ihn als einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen an“1. Die Benennung der „Evangelisch-lutherischen Landeskirche“ in Bayern und die Selbstbezeichnung der österreichischen Schwester „Evangelische Kirche Augsburger Konfession“ stellen zwei sich wechselseitig erklärende Umschreibungen dar, die zugleich die historischen Grundlagen aus der Zeit um 1530 bis 1630 und das damit imaginierte Bild Martin Luthers und seiner Lehre modern reflektieren. Die Evangelische Landeskirche Bayerns nennt sich heute nicht mehr wie zwangsweise zu Zeiten des katholischen Königs als oberstem Landesbischof (summus episcopus) „protestantische“ Kirche mit dem intern differenzierenden lutherischen Konfessionsunterschied „rechts des Rheins“, sondern sie heißt seit Fortfall der reformierten bayerischen Rheinpfalz ganz offiziell im Kirchennamen „lutherisch“. Das hat natürlich auch mit der zitierten Luther-Renaissance zu tun, besitzt jedoch in Franken eine eigene ungebrochene Kontinuität, von der anhand entsprechender Bekenntnisbilder am Ende nochmals die Rede sein wird.

      EIN NIEDERLÄNDISCHES GEMÄLDE UM 1600

      Ich erkläre die genannte Verschränkung der Fakten aus Vergangenheit und Gegenwart zunächst anhand eines Gemäldes aus der Zeit um 1600, das auf einen Kupferstich von 1590 zurückgeht (s. f. S.). Es führt an den Kern der Schlüsselfigur Luther für jene Epoche. Es handelt sich um eine anonyme niederländische Schildermalerei aus dem heutigen Museum im Katherinenkonvent zu Utrecht. Das Bild hat im vergangenen Vierteljahrhundert drei großen Jubiläums-Ausstellungen in Deutschland als Beleg für das Phänomen „Eine Religion – Drei Kirchen“ gedient: zuerst 1983 in Hamburg Luther und die Folgen für die Kunst, dann 1998 in Münster 1648. Krieg und Frieden in Europa und 2005 in Augsburg Als Frieden möglich war, 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Ein Ausschnitt zeigt die drei zentralen Figuren Calvin, den Papst und Luther gemeinsam zu Tisch beim Essen. Dieses Detail schmückte den Katalog der Augsburger Ausstellung als Frontispiz und machte das Gemälde mithin zum optischen Aufhänger für das Projekt. Das emblematische Programm des vielfach verschlüsselten Bildes lässt sich aufgrund einer mit Armgestus und Ölzweig fordernd deutenden allegorischen Figur betiteln: Der Frieden mahnt die Kirchen zur Toleranz. Diese Aussage allein haben die drei Ausstellungen in den Vordergrund gestellt, das heißt hierfür eine eindrucksvolle Visualisierung bieten können. Uns interessiert daran vor allem die Gestalt Luthers, weshalb wir in Genese, Interpretation und Wirkungsgeschichte des gesamten Gemäldeentwurfs näher eintreten müssen, um zu stimmigen Aussagen über den imaginativen Gehalt dieser Lutherpräsentation zu gelangen.

      Wenn man jenes Bild einem beliebigen Interessenten vorlegte, um die Darstellung Luthers