Das Stunden-Buch. Rainer Maria Rilke

Читать онлайн.
Название Das Stunden-Buch
Автор произведения Rainer Maria Rilke
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788027210114



Скачать книгу

Stücke

      deines alten Namens.

      Der blasse Abelknabe spricht:

      Ich bin nicht. Der Bruder hat mir was getan,

      was meine Augen nicht sahn.

      Er hat mir das Licht verhängt.

      Er hat mein Gesicht verdrängt

      mit seinem Gesicht.

      Er ist jetzt allein.

      Ich denke, er muß noch sein.

      Denn ihm tut niemand, wie er mir getan.

      Es gingen alle meine Bahn,

      kommen alle vor seinen Zorn,

      gehen alle an ihm verloren.

      Ich glaube, mein großer Bruder wacht

      wie ein Gericht.

      An mich hat die Nacht gedacht;

      an ihn nicht.

      Du Dunkelheit, aus der ich stamme,

      ich liebe dich mehr als die Flamme,

      welche die Welt begrenzt,

      indem sie glänzt

      für irgend einen Kreis,

      aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

      Aber die Dunkelheit hält alles an sich:

      Gestalten und Flammen, Tiere und mich,

      wie sie’s errafft,

      Menschen und Mächte –

      Und es kann sein: eine große Kraft

      rührt sich in meiner Nachbarschaft.

      Ich glaube an Nächte.

      Ich glaube an Alles noch nie Gesagte.

      Ich will meine frömmsten Gefühle befrein.

      Was noch keiner zu wollen wagte,

      wird mir einmal unwillkürlich sein.

      Ist das vermessen, mein Gott, vergib.

      Aber ich will dir damit nur sagen:

      Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb,

      so ohne Zürnen und ohne Zagen;

      so haben dich ja die Kinder lieb.

      Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden

      in breiten Armen ins offene Meer,

      mit dieser wachsenden Wiederkehr

      will ich dich bekennen, will ich dich verkünden

      wie keiner vorher.

      Und ist das Hoffahrt, so laß mich hoffährtig sein

      für mein Gebet,

      das so ernst und allein

      vor deiner wolkigen Stirne steht.

      Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,

      um jede Stunde zu weihn.

      Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,

      um vor dir zu sein wie ein Ding,

      dunkel und klug.

      Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten

      die Wege zur Tat;

      und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,

      wenn etwas naht,

      unter den Wissenden sein

      oder allein.

      Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,

      und will niemals blind sein oder zu alt

      um dein schweres schwankendes Bild zu halten.

      Ich will mich entfalten.

      Nirgends will ich gebogen bleiben,

      denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.

      Und ich will meinen Sinn

      wahr vor dir. Ich will mich beschreiben

      wie ein Bild das ich sah,

      lange und nah,

      wie ein Wort, das ich begriff,

      wie meinen täglichen Krug,

      wie meiner Mutter Gesicht,

      wie ein Schiff,

      das mich trug

      durch den tödlichsten Sturm.

      Du siehst, ich will viel.

      Vielleicht will ich Alles:

      das Dunkel jedes unendlichen Falles

      und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.

      Es leben so viele und wollen nichts,

      und sind durch ihres leichten Gerichts

      glatte Gefühle gefürstet.

      Aber du freust dich jedes Gesichts,

      das dient und dürstet.

      Du freust dich Aller, die dich gebrauchen

      wie ein Gerät.

      Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät,

      in deine werdenden Tiefen zu tauchen,

      wo sich das Leben ruhig verrät.

      Wir bauen an dir mit zitternden Händen

      und wir türmen Atom auf Atom.

      Aber wer kann dich vollenden,

      du Dom.

      Was ist Rom ?

      Es zerfällt.

      Was ist die Welt?

      Sie wird zerschlagen

      eh deine Türme Kuppeln tragen,

      eh aus Meilen von Mosaik

      deine strahlende Stirne stieg.

      Aber manchmal im Traum

      kann ich deinen Raum

      überschaun,

      tief vom Beginne

      bis zu des Daches goldenem Grate.

      Und ich seh: meine Sinne

      bilden und baun

      die letzten Zierate.

      Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,

      weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.

      Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:

      wenn ein Gebirge Gold hat

      und keiner mehr es ergraben mag,

      trägt es einmal der Fluß zutag,

      der in die Stille der Steine greift,

      der vollen.

      Auch wenn wir nicht wollen:

      Gott reift.

      Wer seines Lebens viele Widersinne

      versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,

      der drängt

      die Lärmenden aus dem Palast,

      wird anders festlich, und du bist der Gast,

      den er an sanften Abenden empfängt.

      Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,

      die ruhige Mitte seinen Monologen;

      und jeder Kreis, um dich gezogen,

      spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.

      Was irren meine Hände in den Pinseln ?

      Wenn