Название | Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) |
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Автор произведения | Ðртур Шницлер |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027209330 |
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Zu Beginn des Winters geschah es, daß sie Alfred in der Stadt zufällig begegnete. Auf ihren letzten Brief war keine Antwort erfolgt. Er behauptete, niemals einen erhalten zu haben. Anfangs ein wenig kühl und nicht ganz unbefangen ihr gegenüber, war er bald wieder so herzlich wie nur je. Die Art, wie er von seiner jungen Gattin sprach, ließ nicht auf besondere Leidenschaft von seiner Seite schließen. Therese stellte sie sich sofort als eine dürftige, blasse, deutsche Kleinstädterin vor, an deren Seite er sich gewiß oft nach ihr, Theresen, 276 zurücksehnte. Er gefiel ihr besser denn je. Auch auf seine äußere Erscheinung schien er mehr Sorgfalt aufzuwenden, als er es früher getan. Sie verabredeten nichts, als sie voneinander Abschied nahmen, aber nun war er wieder da, und es lag nur an ihr, ihn wiederzusehen, wann sie wollte. Sie träumte sich in eine neue Verliebtheit und war beglückt. Sie begann wieder frischer und jünger auszusehen. Ein junger Mann, fast Knabe noch, der manchmal seine Schwester von ihrer Lektion bei Therese abholte, verliebte sich in sie. Einmal erschien er am frühen Morgen, um ihr eine Bestellung von seiner Schwester zu überbringen. Seine Schüchternheit belustigte sie; sie kam ihm ein wenig entgegen. Er blieb so schüchtern, wie er war, verstand wohl kaum ihr Lächeln, ihre Blicke, – als er wieder fort war, schämte sie sich und benahm sich von nun an völlig abweisend gegen ihn.
Eines Tages wurde Therese wieder in die Schule beschieden und erfuhr, daß Franz seit vielen Wochen nicht mehr dort gewesen war. Sie war nicht sonderlich überrascht. Als sie ihn daheim zur Rede stellte, teilte er ihr seinen Entschluß mit, als Matrose auf ein Schiff zu gehen. Therese besann sich, daß er Ähnliches schon früher geäußert, daß auch in seinem Gespräch mit Agnes, dem sie beigewohnt, flüchtig davon die Rede gewesen war. Nun aber schien es ihm ernst damit zu sein. Therese hatte nichts dawider, ja, sie sprach mit ihm diesen Plan gründlich durch, und nach langer Zeit redeten sie vernünftig und geradezu freundschaftlich miteinander, nicht wie Feinde, die zusammen unter einem Dache wohnen mußten. Aber in den nächsten Tagen war von diesem Plan nicht weiter die 277 Rede. Therese getraute sich nicht, darauf zurückzukommen, als fürchtete sie sich, dereinst den Vorwurf hören zu müssen, daß sie selbst ihn in die Welt hinausgetrieben habe.
Ein hoch aufgeschossener Bursch, angeblich Verkäufer in einem Delikatessengeschäft, war in der letzten Zeit zuweilen in der Wohnung erschienen, holte Franz ins Theater ab, für das er, wie er erzählte, immer Freibilletts geschenkt bekomme. Nach dem Theater pflegte Franz bei seinem Freund zu übernachten, wie er wenigstens der Mutter sagte. Einmal geschah es, daß er auch den ganzen nächsten Tag nicht nach Hause kam. In einer plötzlichen Angst, die sie sich eigentlich schon abzugewöhnen begonnen hatte, lief sie zu den Eltern seines Freundes, und sie erfuhr, daß auch der noch nicht daheim war. Am selben Abend noch wurde Therese auf die Polizei beschieden. Es ergab sich, daß Franz zusammen mit einigen anderen, durchaus halb erwachsenen Burschen und Mädchen aufgegriffen worden war, die einer jugendlichen Diebesbande angehörten. Franz als der einzige, der noch nicht das sechzehnte Jahr erreicht hatte, wurde seiner Mutter zur häuslichen Züchtigung übergeben. Der Kommissär ließ ihn hereinführen, redete ihm ins Gewissen und sprach in gleichgültiger, wie auswendig gelernter Rede die Hoffnung aus, daß ihm diese Erfahrung zur Lehre dienen und daß er von nun an ein anständiger Mensch bleiben werde. Schweigend ging Therese mit ihrem Sohn nach Hause. Sie trug das Abendessen auf wie gewöhnlich. Endlich entschloß sie sich, Fragen an ihn zu stellen. Er erwiderte anfangs in sonderbar geschraubter Weise, wie eine Verteidigung, die er sich schon zur Verantwortung vor Gericht 278 einstudiert hatte. Hörte man ihm zu, so war das Ganze eigentlich nur ein Spaß gewesen. Es war ja auch wirklich nichts gestohlen worden. Als Therese ihm ins Gewissen zu reden versuchte, schien er ihr nicht so verstockt, als er es sonst zu sein pflegte, ja, es war, als hätte ihm das erzwungene Geständnis in Anwesenheit der Mutter eine Aufrichtigkeit leicht gemacht, zu der er bisher nicht den Mut gefunden. Er erzählte von den Freunden und Freundinnen, mit denen er abends zusammenzutreffen pflegte, und es war anfangs wirklich so, als wenn nur von Kinderspielen die Rede wäre, die sie trieben. Er nannte Namen, die unmöglich wirkliche sein konnten, es waren, wie er zugestand, Spitznamen von sonderbarem Klang und zweideutigem Sinn. Allmählich schien er zu vergessen, daß es seine Mutter war, die ihm gegenübersaß. Er erzählte von Praternächten des vergangenen Sommers, wo sie alle, Buben und Mädeln, in den Auen geschlafen hatten, und erst als ihn ein entsetzter Blick der Mutter traf, lachte er kurz und frech auf und verstummte. Und sie wußte, daß diese plötzliche Freimütigkeit ihn ihr endgültiger und rettungsloser entfremdet hatte als irgend etwas je zuvor.
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Sie fragte von nun an nach nichts mehr, ohne jeden Widerstand ließ sie es geschehen, daß er jeden Abend das Haus verließ und erst in den Morgenstunden zurückkehrte. Doch einmal, als der Morgen da war, ohne daß er heimgekehrt wäre, geriet sie in eine ihr unerklärliche, ahnungsvolle Angst. Sie zweifelte nicht, daß er wieder bei einem schlimmen Streich abgefaßt worden 279 war und daß es diesmal nicht so glimpflich abgehen würde als das erstemal. Und als er endlich vor ihr stand, gab sich ihre Erregung, gerade weil sie eigentlich überflüssig gewesen war, in besonders erbitterter Weise kund. Er ließ sie eine Weile reden, erwiderte kaum, ja, lachte zu ihren Worten, als hätte er seine Freude an ihrem Zorn. Therese, dadurch noch heftiger aufgebracht, redete sich in eine Erbitterung ohne Maß. Da, ganz plötzlich, schrie er ihr ein Wort ins Gesicht, das sie zuerst nur falsch verstanden zu haben glaubte. Mit großen, fast irren Augen sah sie ihn an, er aber wiederholte den Schimpf, sprach weiter. »Und so eine will mir was sagen. Was glaubst denn du eigentlich?« Seine Zunge war entfesselt. Weiter sprach er, schimpfte, höhnte, drohte, und sie hörte zu, wie erstarrt. Es war das erstemal, daß er ihr den Makel seiner Geburt ins Gesicht schrie. Aber er sprach nicht zu ihr wie etwa zu einer Unglücklichen, die von einem Liebhaber im Stich gelassen worden war, sondern wie zu einem Frauenzimmer, das eben einmal Pech gehabt und gar nicht wußte, wer der Vater ihres Kindes sei. Es waren auch nicht Vorwurfe eines Kindes, das durch seine uneheliche Geburt sich benachteiligt, gefährdet oder gar geschändet fühlte, es waren bübische, gemeine Schimpfworte, wie Gassenjungen sie Dirnen auf der Straße nachrufen. Sie fühlte auch, daß er bei all seiner Verdorbenheit in seiner tiefsten Seele kaum verstand, was er sagte. Er drückte sich eben so aus, wie es in seinen Kreisen üblich war, sie empfand weder Kränkung noch Schmerz, es war nur das Grauen einer ungeheuren, nie von ihr geahnten Einsamkeit, in das aus unendlicher Ferne die Stimme eines unbegreiflich 280 Fremden