Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt

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Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte
Автор произведения Eugenie Marlitt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026841036



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stürzen ...

      34.

       Inhaltsverzeichnis

      Die entsetzliche Katastrophe in den Kohlengruben hatte, wie schon erzählt, seit mehreren Tagen gespukt; sie hatte mit deutlichem, starkem Finger geklopft und sich angemeldet; und doch waren die Leute unbeirrt aus und ein gefahren; denn die verschriebenen Techniker von Ruf, die der Gefahr vorbeugen sollten, wurden nunmehr jede Stunde erwartet, und »gar so eilig werde es ja der Tückebold da drunten nicht haben,« hatten die Leichtsinnigen, den Herrn Rat an der Spitze, sorglos gemeint.

      Die Frauen der Grubenarbeiter waren gerade mit dem Mittagsbrot für ihre Ehemänner durch das kleine Tal gegangen, als plötzlich ein dumpfes Dröhnen den Boden unter ihren Füßen erschüttert hatte. Gleich darauf waren ein paar schreckensbleiche Männer aus den Gruben zutage gefahren, um das furchtbare Geschehnis zu verkünden. Sie hatten sich noch retten können; wie es um die anderen stehe, deren angstvolles Hilferufen bis zu ihnen gedrungen war, darüber hatten sie nichts zu sagen gewußt – nur die Tatsache, daß das Wasser als unermeßlicher Schwall drunten hervorstürze und binnen kurzem alles ersäufen müsse, war als das Unumstößliche von ihrer schreckgelähmten Zunge wiederholt hervorgestammelt worden.

      Was im ersten Augenblick an Ort und Stelle zur Rettung der Verunglückten getan werden konnte, war sehr wenig; der größte Teil der Arbeiter befand sich in den Gruben, kaum einige Mann standen dem Inspektor zur Verfügung; aber die Weiber rannten in Sturmeseile, alarmierend und laut jammernd durch die Stadt nach dem Klostergute und drangen, umringt von einem immer stärker anwachsenden Menschenschwarm, bis in den Hausflur ... Ein zeterndes Wehklagen, in das sich das unwillige und drohende Gemurmel der mitgelaufenen Menschen mischte, hallte schauerlich von den alten Wänden wieder. Die Knechte und Taglöhner kamen aus dem Hinterhof herbeigestürzt: die Mägde aber verriegelten die Tür der Küche und verkrochen sich – sie glaubten nicht anders, als die aufgeregte Menge wolle den Herrn Rat massakrieren.

      Man klopfte nicht, sondern schlug unter Flüchen und Drohungen mit derber Faust an die Tür der Amtsstube, als der fahrlässige Grubenbesitzer nicht sofort erschien. Da flog drinnen der Riegel zurück und der Rat trat auf die Steinstufe heraus – er war ganz fahl im Gesicht vor Schreck und Bestürzung.

      Zwanzig Kehlen zugleich schrien ihm die Unglücksbotschaft zu. Dem sonst so kalt beherrschten, finsteren Mann wankten sichtlich die Knie; er griff schweigend nach seinem Hut und schritt sofort durch die Leute, die sich ihm anschlossen, ohne daß er Kraft und Geistesgegenwart gefunden hätte, ihre lärmende Begleitung mit strengen Worten zurückzuweisen. Seine Knechte und Taglöhner und die beherzte Stallmagd liefen auch mit.

      Von diesem Auftritt in dem Hausflur hatte Mosje Veit keine Ahnung. Er war von dem Birnbaum herabgeklettert; nachdem er auch den letzten Zipfel von »Tante Thereses« Kleid hinter dem Gebüsch hatte verschwinden sehen, war er nach der immer noch offenstehenden Gartentür in der Mauer gelaufen und hatte sie zugeschlagen und verschlossen. Nun sah sich die Tante gezwungen, in der Küchenschürze, ohne Hut und Schal über die Promenade zu gehen, wenn sie auf das Klostergut zurückkehren wollte – es geschah ihr ganz recht; warum war sie fortgelaufen zu den fremden Leuten, die er und der Papa nicht ausstehen konnten!

      Er hatte auch versucht, die bleichende Leinwand, die nicht gestohlen war, wie er gelogen, von den Pflöcken zu nehmen und sie zusammengerollt im Gebüsch zu verstecken; das gab einen heillosen Schrecken und Arger für die Tante Therese; aber für seine Hände waren die starken flachshaltigen Weben doch zu schwer – den Spatz mußte er sich vergehen lassen. Er biß dafür die im Grase liegenden Frühbirnen eine um die andere an und warf sie wieder hin, und griff schließlich zu seinem an der Mauer lehnenden Blasrohr, um nach den Spatzen zu schießen.

      Aber man kam ja gar nicht, um ihn zu suchen, wie das jeden Mittag geschah, wenn gegessen werden sollte; und es mußte doch längst Tischzeit sein.

      Er lief durch den Hof und guckte in die Ställe und in die Gesindestube. Die Türen standen offen; das Vieh brummte und blökte, aber keine Menschenseele war zu sehen, und auf dem weißgescheuerten Tisch in der Gesindestube lag weder das große Hausbrot, noch dampfte die mächtige Eßschüssel, die stets pünktlich, auf den Glockenschlag, gebracht wurde.

      Auch die Küche war leer. Aus der Bratröhre quoll heißer Dampf, und auf dem Herde kochte der Suppentopf über – das brodelte, zischte und schäumte, und Veit schob, kichernd vor innerer Wonne, ein dürres Holzstück um das andere in das Feuer; es sollte brennen, brennen, bis kein Tropfen Suppe mehr im Topfe und der Braten in der Röhre zu Pulver verbrannt war ... Die »dummen« Mägde benutzten zu frech die Gelegenheit, da die Tante für einen Augenblick nicht zu Hause war, und standen irgendwo und klatschten zusammen ... Und richtig, als er in den Hausflur zurückkehrte, da sah er sie drüben am offenen Mauerpförtchen stehen und lebhaft mit mehreren Männern und Frauen verhandeln.

      Das sollte aber auch gleich auf der Stelle der Papa erfahren – er sollte sie beim Klatschen und Faulenzen erwischen.

      Veit klopfte an die Tür der Amtsstube, denn in der letzten Zeit hatte sie der Rat stets verschlossen gehalten, auch wenn er im Zimmer war – er behauptete, man laufe ihm neuerdings zu direkt und unverfroren in seine Arbeitsstube und störe ihn um jeder Kleinigkeit willen.

      Aber das Klopfen wurde drin nicht beachtet; und so versuchte Veit, mit der Türschnalle zu rasseln – knarrend fiel die Tür zurück; sie war nicht verschlossen gewesen und der Papa mußte fortgegangen sein – das Zimmer war leer.

      Für Mosje Veit war das eine kostbare Entdeckung. Er kramte für sein Leben gern in der Amtsstube, in den alten Scharteken, die sich auf den unteren Brettern der Büchergestelle hinreihten, und von denen viele alte grobe Holzschnitte enthielten. Er trat auch oft auf die Galerie und predigte über das Geländer herab in plärrendem Kanzelton, als sei die Amtsstube von einem andächtigen Auditorium erfüllt. Manchmal war es ihm auch geglückt, den Wandschrank auf der Galerie zu öffnen und die alten zinnernen Orgelpfeifen, die pausbäckigen Holzengel an das Tageslicht zu schleppen.

      Er lief spornstreichs die wenigen Stufen hinauf und blieb plötzlich stehen, während seine intelligenten Augen auffunkelten wie die eines Fuchses, dem eine willkommene Beute zuläuft – da war ja wieder einmal dem Heiligen auf der Holzwand der Arm ausgerissen! ... Der Spalt, der so unbarmherzig das segnend ausgestreckte Glied von dem Rumpfe schnitt, erwies sich zwar diesmal kaum halb so breit und gähnend wie neulich; aber er war doch sichtbar und lief in scharfer Linie durch die Holzschnitzereien bis hinunter auf die Dielen, wie eine Türluke.

      Der Knabe bückte sich – ein Stückchen Holz, vielleicht an der Sohle mitgeschleppt, hatte sich drunten eingeklemmt und verhinderte den festen Schluß der Fuge ... Da hatte ihm der Papa neulich etwas weismachen wollen, aber prosit – »Veitchen« war nicht so dumm! Er hatte es gleich nicht geglaubt, und wenn er auch nachher heimlich gesucht und die Lücke nicht wiedergefunden hatte, zusammengeleimt war sie doch nicht, denn kein Tischler war ins Haus gekommen. Er zwängte zwei seiner Finger in die Spalte, um das Holzstückchen herauszunehmen, und da wichen die Holztafeln zu beiden Seiten geräuschlos und so willig zurück, als gingen sie auf fleißig geölten Rädern; und bei einem weiteren Druck verschwanden auf der einen Seite der Rumpf des Heiligen, auf der anderen der ausgestreckte Arm und das unter demselben knieende Weib hinter den erhabenen, mit Arabesken bedeckten Feldern, welche die Legendenbilder rahmenartig unterbrachen.

      Mosje Veit war doch ein wenig erschrocken. Er kannte sonst keine Furcht – im ganzen Klosterhause gab es nicht einen entlegenen dunkeln Winkel, den er nicht durchstöbert hatte; er kauerte oft stundenlang in den unheimlichsten Ecken, um, plötzlich hervorspringend, den ahnungslos Vorübergehenden einen Todesschrecken einzujagen. Aber die Wandöffnung da gähnte ihn an wie ein großer, schwarzer Schlund, und eine häßliche, eingesperrte Luft quoll ihm entgegen.

      Allein die Neugier überwog. Er bog den Kopf vor und sah, daß dicht an der Öffnung ein paar Stufen emporführten, Steinstufen, die sich schön glatt anfühlten und ganz hell aus der Finsternis drinnen aufblinkten. Und der schwache Schein des Tageslichtes, der mit ihm eindrang, streifte seitwärts neue Bretter – das war die