Название | Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte |
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Автор произведения | Eugenie Marlitt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026841036 |
Das Kind wandte sich arglos um – der große Junge war nicht da, und da, wo vorhin die Katze mit ihrem Verfolger verschwunden war, in der Türöffnung, dämmerten halbverwischte, seltsame, graue Schnörkeleien, und man konnte nicht mehr in den Gang hinaussehen ... Das unschuldige Kind begriff im ersten Moment seine Situation nicht – die große, gemalte Fläche dort war eine Türe, die man selbstverständlich aufmachen konnte, und der lange Junge stand natürlicherweise draußen auf dem Gange.
José stand auf und lief durch die Kammer; aber die Türe ließ sich nicht aufdrücken – es war auch kein Griff, kein Schlüssel zu sehen; nur an der Stelle, wo ehemals das Schloß gesessen, war ein kleines Loch im Holz verblieben, durch das man in den dunkel dämmernden Gang hinauslugen konnte. Da draußen aber war es grabesstill und durch die festanschließende Tür, die nicht wich, noch wankte, konnte keine Maus schlüpfen ...
Das Kind stieß plötzlich einen markerschütternden Schrei der Furcht und Angst aus; aber es schwieg ebenso rasch wieder und drückte mit zurückgehaltenem Atem aufhorchend das Ohr an die Türfuge – draußen schlich es über die knarrenden Dielen. »Ach, lieber Junge, mache mir doch auf!« bat der Kleine flehentlich.
Keine Antwort, keine Berührung der unbarmherzigen Türe, die ihn einsperrte zwischen diese schrecklichen vier Wände.
Er pochte unter herzbrechendem Weinen mit den kleinen Fäusten aus allen Kräften auf die schmutzigen Bretter, und dazwischen rief er mit seiner zärtlich bittenden Kinderstimme nach Tante Mercedes, nach Jack und Deborah, nach allen, die ihm zu Hause jederzeit helfend die Hände entgegenstreckten – bis er heiser und erschöpft auf der Schwelle niedersank.
Dort kauerte er, hoch oben im alten Falkennest, auch ein schönes, verirrtes, von unbeschreiblicher Furcht geschütteltes Vögelchen, wie einst der arme, einfliegende »Kolibri«. – Wenn das der Verstoßene gewußt hätte, der weit drüben über dem Meere, an Floridas Küste, unter Magnolien und Lorbeerbäumen den ewigen Schlaf schlief! ... Er hatte sie ja auch gekannt, diese wüste, sonnenheiße Dachkammer, in der alles aufgestapelt wurde, was sich als dienstuntauglich erwies – diese Wände, behangen mit wackligen Rahmen, in denen hie und da noch ein Spiegelsplitter steckte, oder ein Fetzen geölter Leinwand eine Ecke füllte – diese altfränkischen Truhen voll alter Schmöker und Kalender, aus denen ganze Mottenwolken wirbelten; die ???Garnweifen und Spinnräder mit ihrem abgenutzten Trittbrett, die viele Generationen der Wolframs, von der Wiege bis zur Gruft, in die unverwüstliche Hausleinwand gehüllt hatten ... Da hockten auch wurmzerfressene Stuhlgestelle übereinander, auf denen vielleicht noch die Tuchweberfamilie gesessen hatte, die vor drei Jahrhunderten aus dem engen Stadtgäßchen auf das Klostergut übergesiedelt war; und in einer Ecke waren die Reste groben Kinderspielzeuges zusammengekehrt – auch die halbentkleideten, kopflosen Puppenbälge, die einst die jüngsten Töchter des Wolframschen Hauses, die flachshaarigen Mägdlein der armen Frau Rätin, gewiegt und geherzt hatten, lagen dort ...
Der Sonnenschein glitt allmählich weg vom kleinen Dachfenster, und der Vogel auf dem Sims war schon beim ersten gellenden Aufschrei des Kindes erschreckt fortgeflogen. Die jungen Katzen waren jetzt auch still; sie lagen zusammengeduckt wie ein graues Knäuel in dem Korbe und hoben nur schlaftrunken die Köpfe, wenn der kleine Eingesperrte auf der Türschwelle in ein lauteres Jammern ausbrach. So oft das Kind die verschwollenen Lider furchtsam hob, sah es auf die von Alter und Abnutzung entstellten und verzerrten Gegenstände. Alle Spukgeschichten, die ihm Deborah so fleißig erzählt hatte, wurden lebendig – sie glotzten aus dem zeigerlosen Zifferblatt der hölzernen Uhr an der Fensterwand, aus dem übriggebliebenen Menschenauge auf einem der Bilderfetzen; sie huschten aus den Truhen und durch das Gewirr von aufeinanderhockenden Stuhlbeinen und winkten und haschten mit den bleichen Lederarmen der Puppenbälge. Auch die Geschichte von fortgelaufenen Kindern, die sich zur Strafe verirrt, ging durch die gemarterte junge Seele. »Ich will's nie wieder tun, Tante! Ich will nie wieder fortlaufen!« murmelte er aufschluchzend und reuevoll, als läge er, die kleinen Arme um ihren Hals schlingend, geborgen am Herzen der schönen Tante und flüsterte ihr, wie immer, seine Abbitte ins Ohr.
Draußen herrschte fort und fort die tiefe, hoffnungslose Stille – nur selten klang ein Hahnenschrei wie aus weiter, weiter Ferne vom Hofe über das Dach her. Aber in der Kammer selbst machten sich jetzt Geräusche bemerklich – es tappte auf leisen Sohlen, Papier raschelte, und plötzlich klirrten die Porzellanscherben auf den Dielen – eine freche junge Ratte, die trotz der Katzennähe ihr Heimatsrecht in der Rumpelkammer behauptete, hatte offenbar Speisereste an dem Porzellan entdeckt; sie tummelte sich schnobernd zwischen den Scherben; und diese Erscheinung war noch viel schrecklicher als die vermeintlichen Spukgestalten. Der Knabe hatte eine Abneigung vor Mäusen – nun lief da eine so »entsetzlich große« – sie konnte im nächsten Augenblick auf ihn zuhuschen. ...
Unter furchtbarem Schreien schnellte er empor. Die Ratte verschwand unter dem Regale; aber das entsetzte Kind rannte wie toll von Wand zu Wand, fast ohne Unterbrechung gellende Hilferufe ausstoßend; nicht einen Augenblick wagte es, zu rasten aus Furcht, das Tier könne wieder hervorkommen und an ihm emporspringen ... Es lief und lief, zuletzt atemlos, schweißbedeckt, unter einem kreischenden Lallen – da wurde plötzlich draußen ein Riegel weggeschoben und die Türe aufgerissen.
Eine große Frau trat auf die Schwelle; das Kind taumelte mit ausgestreckten Armen auf sie zu und stammelte: »Ach, mache die Tür nicht wieder zu! ... Ich will ein guter Junge sein! Ich will nie wieder fortlaufen!«
Es war ein totenbleiches Gesicht, das sich über ihn bog, und durch den Körper der Frau ging es wie ein Schaudern, als die Kinderarme sich um ihre Hüften schlangen – aber sie ergriff den Knaben und führte ihn hinaus auf den Gang.
Und da war ja auch mit einemmal der lange Junge. Er kam hinter einem Schornstein hervor und trampelte vor Vergnügen mit seinen Hufeisen wie ein ausgelassenes Füllen. »Gelt, es ist schön in der Rumpelkammer? – Hast du nun lange genug mit den Katzen gespielt?« schrie er und lachte aus vollem Halse.
»Du hast ihn heraufgelockt und eingesperrt?« fragte die Frau kurz, mit seltsam tonloser Stimme.
»Freilich – wer denn sonst?« – Er hieb mit der Reitpeitsche durch die Luft, und seine schiefgestellten, verschmitzten Augen schielten frech an der Frau empor. – »Aber was hast denn du danach zu fragen? – dich geht es ja gar nichts an! ... Ich kann den Zierbengel nicht ausstehen – er ist noch schrecklich dumm und läuft einem nach wie ein junger Hund. Einen Spitzenkragen hat er um, der Affe, und seine Schuhe sind –«
Er kam nicht weiter. Mit einem raschen, festen Griff hatte die Frau ihn gepackt und züchtigte ihn weidlich mit ihren großen, kräftigen Händen – dann stellte sie ihn auf die Beine und stieß ihn nach der offenen Tür, die vom Gange in das Klosterhaus führte.
Zuerst hatte er, stumm vor Überraschung, keinen Laut von sich gegeben. Er war in seinem ganzen jungen Leben noch nicht geschlagen worden – wer von den Leuten hätte sich auch je an dem vergötterten Ratssöhnchen auf dem Klostergute vergreifen mögen? – Er wußte nur, daß andere Geschöpfe unter seinen Gerten- und Peitschenhieben aufschrien, und nun schrie er selber, aber erst in dem Augenblick, wo ihn die unerbittliche Hand auf die Füße stellte ... Nun rannte er wie besessen durch den Gang und die Treppen hinab; die eisenbeschlagenen Absätze tosten über die Stufen; er kreischte wie ein Tier – je tiefer er hinab kam, desto durchdringender. Das gellte von den Treppenwänden und hallte aufschreckend durch die weite Flur des alten Klosterhauses. Das Gesinde