Gesammelte Werke. Robert Musil

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



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die stumpf und häßlich alle Formen verwischt hatte, es lag nur mehr wie eine ganz dünne, seidene Maske über der Welt, hell und silbergrau und bewegt wie vor dem Zerreißen. Und sie spannte ihre Augen und es flimmerte ihr davor, wie wenn sie von unsichtbaren Stößen gerüttelt würde.

      Lange schon war diese Bewegung dahergekommen, Viktoria dachte daran, ob es wohl Liebe sei. Langsam war sie gekommen. Und doch für das Zeitmaß ihres Lebens zu rasch. Das Zeitmaß ihres Lebens war noch langsamer; es war ganz langsam. Es war wie ein langsames Öffnen und wieder Schließen der Augen und dazwischen wie ein Blick, der sich an den Dingen nicht halten kann, abgleitet, langsam, unberührt vorbeigleitet. Mit diesem Blick hatte sie es kommen gesehen. Und sie konnte daher nicht glauben, daß es Liebe sei. Denn sie verabscheute ihn so dunkel wie alles Fremde; ohne Haß, ohne Schärfe, nur wie ein fernes Land, jenseits der Grenze, wo weich und trostlos das eigene mit dem Himmel zusammenfließt. Ihr Leben war freudlos geworden, seit sie so alles Fremde verabscheute, sich still davor zurückzog. Es schien ihr manchmal, daß sie seinen Sinn nicht wüßte, aber seit dieser Mann darin war, dünkte sie, daß sie ihn bloß vergessen hatte; es quälte sie manchmal etwas wie die unter dem Bewußtsein treibende Erinnerung an eine wichtige vergessene Sache.

      Es war irgend einmal, daß sie dem Leben näher stand, es deutlicher spürte, wie mit den Händen oder wie am eigenen Leibe, aber sie wußte nicht mehr, wie und wann das war. Denn seither hatte ein schwaches Alltagsleben sich über diese Eindrücke gelegt und hatte sie verwischt, wie ein matter dauernder Wind Spuren im Sand; nur mehr seine Eintönigkeit hatte in ihrer Seele geklungen, wie ein leise auf und ab schwellendes Summen. Sie kannte keine starken Freuden mehr und kein starkes Leid, nichts, das sich merklich oder bleibend aus dem Übrigen herausgehoben hätte und allmählich war ihr Leben ihr immer undeutlicher geworden. Die Tage gingen einer wie der andere dahin und eines gleich dem anderen kamen die Jahre, sie fühlte wohl noch, daß ein jedes ein wenig hinwegnahm und etwas hinzutat und daß sie sich langsam in ihnen änderte, aber nirgends setzte sich eines klar von dem anderen ab; sie hatte ein unklares, fließendes Gefühl von sich selbst und wenn sie sich innerlich betastete, fand sie nur den Wechsel ungefährer und verhüllter Formen, unverständlich, wie man unter einer Decke etwas sich bewegen fühlt ohne den Sinn zu erraten. Es war wie wenn sie unter einem weichen Tuche lebte oder unter einer Glocke von dünn geschliffenem Horn, die immer undurchsichtiger wurde. Die Dinge traten weiter und weiter zurück und verloren ihr Gesicht, und auch ihr Gefühl von sich selbst sank immer tiefer in die Ferne. Es blieb ein leerer ungeheurer Raum dazwischen und in diesem lebte ihr Körper. Er sah die Dinge um sich, er lächelte, er lebte, aber alles geschah so beziehungslos, und häufig kroch lautlos ein zäher Ekel durch diese Welt, der alle Gefühle wie mit einer Theermaske verschmierte.

      Und dann kam er, der alles besaß, durch die verdämmernde Einöde ihres Lebens. Er ging, und die Dinge ordneten sich unter seinen Augen. Es war, wie wenn er die Welt einatmen und im Leibe halten und von innen spüren könnte und sie dann wieder ganz sacht und vorsichtig vor sich hinstellte, wie ein Künstler, der mit fliegenden Reifen arbeitet; es tat ihr weh, wie schön er war. Sie war eifersüchtig auf ihn, denn unter ihren Augen ordnete sich nichts, und sie hatte zu den Dingen die Liebe einer Mutter für ein Kind, das zu leiten sie zu gering ist. Sie suchte sich in die Höhe zu richten, aber es schmerzte sie, wie wenn ihr Körper krank wäre und sie nicht tragen könnte. Und sie sank langsam wieder in sich zurück und kauerte in ihrer Finsternis und starrte ihn an und empfand dieses sich in sich Verschließen fast wie eine sinnliche Berührung, der sie sich lüstern vor Bewußtsein hingab, es ganz nahe seinen Augen und doch ihm unerreichbar zu tun. Es sträubte sich etwas in ihr wie ein weiches, knisterndes Katzenfell und wie eine kleine glitzernde Kugel ließ sie ihr Nein aus ihrem Versteck heraus und vor seine Füße rollen.

      Und nun war es, wie wenn etwas mit einem leisen Klingen zersprungen wäre und wie aus einer zerbrochen am Boden liegenden Hülle war ihr daraus ein Gefühl von ihr selbst hervorgestiegen; es war plötzlich so fest, daß sie sich wie ein Messer in dem Leben dieses anderen Menschen fühlte. Es war alles klar gegliedert; er wird gehen und sich töten, das war etwas so Wuchtendes, wie ein dunkler schwerer Körper auf der Erde liegt, es war etwas so Unwiderrufliches wie ein Schnitt durch die Zeit, vor dem alles Strömende erstarrte, es sprang dieser Augenblick mit einem plötzlichen Blinken wie ein Schwert aus allen anderen heraus und sie sah ganz deutlich etwas, das man gar nicht sehen kann, wie die Beziehung ihrer Seele zu dieser anderen Seele, in ihrer augenblicklichen Lage, ein Durchgangsding, ein Ausholen und Übergang, plötzlich zu etwas Letztem, Unverrückbarem, Unabänderlichem wurde, das wie ein Aststumpf in die Ewigkeit ragte. Eine Traumhelligkeit stieg in ihr auf, in der das feinste Geschehen wie zartes Geäder sichtbar wurde, ein geheimnisvolles, neues Licht lag auf den Dingen und sie fühlte es auf sich, sie veränderte sich darin für sich selbst, sie war fast nur mehr eine Gestalt, wie sie durch die Bilder der Schlafenden schreiten … Sie konnte vielleicht schon glauben, daß jenes Liebe war, sie war schon von Zärtlichkeit für ihn erfüllt, dem sie alles dankte; … aber sie schritt durch eine andere Welt, und eine Lust ihm weh zu tun, trug dort Viktoria wie eine leichte Luft, die sie mit bebendem Wittern einatmete, die sie erfüllte und hob, und in der ihre Gebärden ausfuhren, in die Ferne griffen, in der sich ihre Schritte mit einem leisen Druck vom Boden lösten und über Wälder hoben. –

      Und Viktoria ging in Sinnen und allein den Weg zurück. Zuhause tat sie still, was sie zu tun hatte, und der Tag verlief ruhig wie alle anderen. Von Zeit zu Zeit tauchte das Geschehen in ihrem Bewußtsein auf. Sie sah nach der Uhr, jetzt mußte er wohl schon dem Burschen im Gasthof seinen Koffer gegeben haben, damit er ihn auf die Bahn trage, jetzt mußte er bereits den Fahrschein für diese letzte Reise gelöst haben, – sie sah das kleine Stück Karton in der zarten Farbe des Zitronenfalters vor sich auftauchen, – dann strengte sie sich an, lange nicht an ihn zu denken, und als sie es das nächstemal wieder tat, mußte der Zug schon durch die Nacht der Bergtäler nach Süden rollen. Sie legte sich zeitig zu Bett und schlief rasch ein. Aber sie schlief leicht und ungeduldig, wie jemand, dem am nächsten Tag etwas Besonderes bevorsteht. Es war unter ihren Augenlidern eine beständige Helligkeit; gegen den Morgen zu wurde sie noch lichter und schien sich zu dehnen, sie wurde unsagbar weit; als Viktoria aufwachte, wußte sie: das Meer. Jetzt mußte er es schon vor sich sehen und hatte nichts Notwendiges auf dieser Welt mehr zu tun als seinen Entschluß auszuführen. Er wird hinaus rudern und schießen. Aber Viktoria wußte nicht wann. Sie begann zu mutmaßen und Gründe gegeneinanderzustellen. Wird er gleich von der Bahn ins Boot …? Wird er auf den Abend warten? Wenn das Meer so ganz ruhig daliegt und wie mit großen Augen einen ansieht? … Sie ging den ganzen Tag in einer Unruhe dahin, wie wenn beständig feine Nadeln gegen ihre Haut schlügen. Zuweilen tauchte irgendwo, – aus einem goldenen Rahmen, der an der Wand aufleuchtete, aus dem Dunkel des Treppenhauses oder aus dem weißen Leinen, an dem sie stickte, – sein Gesicht auf. Bleich und mit karmoisinroten Lippen … verzerrt und aufgedunsen vom Wasser, … oder bloß wie eine schwarze Locke über einer eingefallenen Stirn. Sie war noch fern von sich, aber sie schritt langsam zu sich zurück. Und als es Abend wurde, wußte sie, daß es geschehen sein mußte.

      Eine tiefe Ruhe und ein Gefühl des Geheimnisses senkte sich auf sie herab. Sie zündete in ihrem Zimmer alle Lichter an und saß zwischen ihnen, reglos in der Mitte des Raumes; sie holte sein Bild aus der Lade hervor und stellte es vor sich hin. Das ganze Gemach schien ein einziges Empfinden zu sein, ein leises Klingen, wie es zur Weihnachtszeit durch ein Haus geht. Die Geräte wuchteten unverrückbar auf ihrem Platze, der Tisch und der Schrank und die Uhr an der Wand, sie waren ganz erfüllt von sich selbst und so fest in sich geschlossen wie eine geballte Faust, und doch sahen sie wie mit Augen auf und herab, als ob sie die vielen Jahre, die sie schon dastanden, nur auf diesen Abend gewartet hätten, um zueinander zu finden. Es schloß und wölbte sich etwas in die Höhe, es strömte von allen Seiten herzu und hob sich hinauf … Viktoria hatte ein Gefühl, wie wenn ihr Leben plötzlich wie ein riesiger Raum mit schweigend flackernden Kerzen um sie stünde. Und dann wurde es wie im Märchen, Schleier sanken herab, sanft wie Schneetreiben vor beleuchteten Fensterscheiben, und Bilder ihres Lebens schienen, hineingewoben, an ihr vorüber zu treiben; ein Kindheitsduft stieg aus Kasten und Laden empor, die Lichter knisterten … –

      Kinder haben noch keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut,