Название | Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch) |
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Автор произведения | Christian Morgenstern |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027203420 |
Ihr schlaft!
Der Blick
Mir gegenüber,
dicht unterm Dach,
sitzt ein Weib
am geduckten Fenster
und näht.
Früh
in das steigende Licht,
spät
in die fallende Nacht.
Manchmal
blickt es vom Schoße auf
und verloren hinaus
auf die Dächer –
die Wolken –
die Ewigkeit.
Ich kann
sein Auge nicht sehn,
aber ich fühle den Blick –
ich blicke ihn mit,
den zehrenden Blick
auf die Dächer –
die Wolken –
die Ewigkeit ...
Der Wissende
Wer einmal frei
vom großen Wahn
ins leere Aug
der Sphinx geblickt,
vergißt den Ernst
des Irdischen
aus Überernst
und lächelt nur.
Ein Spiel bedünkt
ihn nun die Welt,
ein Spiel er selbst
und all sein Tun.
Wohl läßt ers nicht
und spielt es fort
und treibt es zart
und klug und kühn –
doch lüftet ihr
die Maske ihm:
er blickt euch an
und lächelt nur.
Wer einmal frei
vom großen Wahn
ins leere Aug
der Sphinx geblickt,
verachtet stumm
der Erde Weh,
der Erde Lust,
und lächelt nur.
Das Auge Gottes
Einst träumte mir das Auge Gottes,
und Grausen überfiel mich.
Entschürzt, entzaubert lag die Welt vor ihm,
entwirrt, entblößt, bis in den letzten Winkel
entheimlicht, nüchtern, reiz- und rätsellos.
Nichts log ihm mehr.
Der ahnungsvolle Rauch,
den wir in Qual und Wonne Leben nennen,
zerflatterte vor ihm, ward kalte Klarheit,
Durchsichtigkeit, notwendige Verknüpfung.
Die Blitz' und Donner der Gefühl' und Triebe,
des Unbewußten herrlich jäher Sturm –
Verhältnisse von Zahlen.
Und mich fror.
Graunvolle Ahnung grenzenloser Öde
befiel mich.
Und ich wünschte mir den Tod.
Stimmungen vor Werken Michelangelos
Der Abend
(Grabmal des Lorenzo v.M.)
Sah ich dich nicht schon einmal,
lichtloser Sinnierer? ...
Sah ich dich nicht schon
viel vielemal? ...
Wenn ich des Tages Straße
hinabgegangen
und im Dämmer,
trauriger Träume schwer,
saß und hinaus sann
in Blut und Schatten
und in die brechenden Blicke
erstarrenden Lebens ...
Lagst du da nicht
am Wegrand,
den Rücken
am letzten Meilenstein,
schwer-lässig den Leib
ellbogengestützt,
aus überernsten, verschatteten Augen
über des Irdischen Wandel
brütend? ...
Warf ich mich da nicht
vor dich hin
und vergrub mich
in deine Augen
und ward mit dir eins
und brütete selber
aus ihren Höhlen
hinaus in die Landschaft? ...
Und dann sah ich
noch einmal im Geist
die langen Menschenzüge des Tags
des Weges wallen,
wie sie dem Goldtor des Morgens
fröhlich entsprangen,
Blumen im Haar
und sorglosen Lachens voll;
wie der und jener
zu Staube dann glitt
und immer mehr
sanken, stürzten –
bis endlich der heiße Mittag
müdrastender Völker
schläfrige Lager fand.
Dann wieder Aufbruch,
klingendes Spiel,
neue Siege der Kraft,
neue Opfer.
Wohin zogen sie aus,
die Morgenscharen?
Wo winkt ihr Ziel?
Wohin