Die toten Seelen. Nikolai Gogol

Читать онлайн.
Название Die toten Seelen
Автор произведения Nikolai Gogol
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
isbn



Скачать книгу

machte sich Pawel Iwanowitsch Tschitschikow auf, um sich die Stadt anzusehen, die ihn offenbar befriedigte, denn er fand, daß sie den anderen Gouvernementsstädten in nichts nachstand: die Steinhäuser waren grellgelb gestrichen, während die Holzhäuser ein bescheidenes Grau zeigten; die Häuser hatten ein, zwei und auch eineinhalb Geschosse, mit den obligaten Mezzanins, die die Gouvernementsarchitekten für besonders hübsch hielten. Stellenweise standen diese Häuser in den wie Felder breiten Straßen, inmitten unendlicher Bretterzäune wie verloren da; stellenweise drängten sie sich eng aneinander, und hier war mehr Bewegung und Leben. Man sah hier und da vom Regen fast verwaschene Schilder mit Brezeln und Stiefeln und eines mit einer ganz primitiv gemalten blauen Hose, unter der zu lesen war: »Schneidermeister aus Arschau«; hier sah man ein Mützen- und Hutgeschäft mit der Inschrift: »Wassilij Fjodorow, Ausländer«; dort war ein Billard mit zwei Spielern in Fräcken dargestellt, wie sie in unseren Theatern die Gäste zu tragen pflegen, die im letzten Akte auftreten. Die Spieler zielten mit ihren Queues und hatten nach hinten gerenkte Arme und krumme Beine, mit denen sie wohl eben einen Luftsprung gemacht hatten. Über diesem ganzen Bilde befand sich die Inschrift: »Etablissement«. Hier und da standen auf der Straße Tische mit Nüssen, Seife und Pfefferkuchen, die wie Seife waren; an einer anderen Stelle befand sich eine Garküche mit einem dicken Fisch, in dem eine Gabel steckte, auf dem Schilde. Am häufigsten sah man aber dunkle Doppeladler, an deren Stelle heute die lakonische Inschrift: »Branntweinausschank« getreten ist. Das Pflaster war überall ziemlich schlecht. Er warf auch einen Blick in den Stadtgarten, der aus dünnen, verkümmerten Bäumchen bestand, die unten von Pfählen gestützt wurden; diese Pfähle bildeten Dreiecke und waren schön mit grüner Ölfarbe gestrichen. Die Bäume waren zwar kaum höher als Schilf, aber in den Zeitungen hieß es von ihnen bei Beschreibung einer Illumination: »Dank der Fürsorge unserer Zivilverwaltung ist jetzt unsere Stadt durch einen Garten geschmückt, der aus schattigen, weitverzweigten Bäumen besteht, welche an heißen Tagen Kühle spenden«; weiter hieß es: »Es war rührend anzusehen, wie die Herzen der Bürger vor überströmender Dankbarkeit zitterten und Tränen des Dankes ob der Verdienste des Herrn Stadthauptmanns vergossen.« Nachdem er einen Polizisten genau ausgefragt hatte, wie man, wenn man es brauchte, auf kürzestem Wege zur Kathedrale, zum Amtsgebäude und zum Gouverneur gelangen könne, begab er sich zum Fluß, der mitten durch die Stadt floß; unterwegs riß er einen an einem Pfahl angenagelten Theaterzettel ab, um ihn zu Hause genau zu studieren, betrachtete aufmerksam eine Dame von recht hübschem Aussehen, die auf dem bretternen Bürgersteig an ihm vorüberging und der ein Knabe in einer Militärlivree mit einem Bündel in der Hand folgte. Nachdem er das Ganze noch einmal mit einem Blick streifte, als wollte er sich die Lage merken, begab er sich nach Hause und stieg, vom Gasthofdiener leicht gestützt, in sein Zimmer hinauf. Nachdem er Tee getrunken hatte, setzte er sich vor den Tisch, ließ sich eine Kerze geben, holte den Theaterzettel aus der Tasche, hielt ihn dicht vor die Kerze und begann zu lesen, wobei er sein rechtes Auge ein wenig zukniff. Auf dem Zettel stand übrigens wenig Bemerkenswertes: es wurde ein Drama des Herrn Kotzebue gegeben, in dem Rolla von einem Herrn Popljowin und Kora von einem Fräulein Sjablow gespielt wurden. Die übrigen Personen waren noch weniger bemerkenswert; er las jedoch den ganzen Zettel durch, gelangte zu den Preisen der Parterreplätze und erfuhr, daß der Theaterzettel in der Druckerei der Gouvernementsverwaltung hergestellt worden war; dann drehte er den Zettel um, um zu erfahren, ob nicht auch auf der Rückseite etwas stehe; als er aber da nichts fand, rieb er sich die Augen, legte den Zettel ordentlich zusammen und verwahrte ihn in einer Schatulle, in die er alles, was ihm nur in die Hand fiel, zu stecken pflegte. Der Tag wurde, wie ich glaube, mit einer Portion kalten Kalbsbratens, einer Flasche Kwas und einem festen Bärenschlaf beschlossen, wie man sich in gewissen Gegenden unseres großen russischen Reiches auszudrücken pflegt.

      Der ganze folgende Tag war den Besuchen gewidmet. Der Fremde machte Visiten bei allen städtischen Würdenträgern. Er machte seine Aufwartung dem Gouverneur, der, wie es sich zeigte, gleich Tschitschikow, weder dick noch mager war, den Annenorden am Halse trug und, wie es hieß, auch den Stern dieses Ordens erhoffte, im übrigen aber ein guter Mensch war und zuweilen sogar Tüllstickereien anfertigte. Dann begab er sich zum Vizegouverneur, zum Staatsanwalt, zum Kammervorsitzenden, zum Polizeimeister, zum Branntweinpächter, zum Direktor der Staatsfabriken … schade, daß man sich alle die Machthaber dieser Welt gar nicht merken kann; es genügt, wenn ich sage, daß der Fremde eine ungewöhnliche Energie im Besuchemachen entwickelte und seine Aufwartung sogar beim Inspektor der Medizinalverwaltung und beim Stadtarchitekten machte. Dann saß er noch lange in seinem Wagen und überlegte sich, wen er noch hätte besuchen können, doch in der Stadt gab es keine Beamten mehr. Im Gespräch mit diesen Machthabern verstand er es sehr kunstvoll, einem jeden irgendeine Schmeichelei zu sagen. Dem Gouverneur sagte er so nebenbei, daß man in sein Gouvernement wie ins Paradies einfahre; alle Straßen seien wie aus Samt, und eine Regierung, die so weise Beamten ernenne, verdiene jegliches Lob. Dem Polizeimeister sagte er etwas äußerst Schmeichelhaftes über die Stadtpolizisten; den Vizegouverneur und den Kammervorsitzenden, die erst Staatsräte waren, sprach er zweimal aus Versehen mit »Exzellenz« an, was den beiden sichtlich gefiel. Die Folge davon war, daß der Gouverneur ihn noch am gleichen Tage zu einer kleinen Abendunterhaltung einlud, während ihn die anderen Beamten ihrerseits teils zum Mittagessen, teils zu einer Partie Boston und teils zu einer Tasse Tee einluden.

      Der Fremde vermied es anscheinend, viel über sich selbst zu reden; und wenn er etwas sagte, so drückte er sich ganz allgemein, mit sichtlicher Bescheidenheit aus, und das Gespräch nahm in solchen Fällen einen etwas literarischen Charakter an; er sagte, er sei nur ein elender Wurm auf dieser Welt, unwürdig, daß man sich um ihn viel kümmere; er habe in seinem Leben im Dienste viel für die Wahrheit gelitten und viele Feinde gehabt, die ihm sogar nach dem Leben trachteten; um endlich einmal Ruhe zu haben, suche er sich einen ständigen Wohnsitz; in dieser Stadt angelangt, hätte er es für seine vornehmste Pflicht gehalten, ihren ersten Würdenträgern seine Hochachtung zu bezeugen. Das ist alles, was man in der Stadt über diese neue Persönlichkeit erfuhr, die es auch nicht unterließ, sich sehr bald bei der Abendunterhaltung im Gouverneurshause zu zeigen. Die Vorbereitungen zu diesem Abend hatten an die zwei Stunden in Anspruch genommen, und der Fremde zeigte dabei eine so peinliche Aufmerksamkeit für seine Toilette, wie man sie nicht jeden Tag sieht. Nach einem kurzen Nachmittagsschlafe ließ er sich Waschwasser bringen und rieb sich außerordentlich lange mit Seife beide Wangen, die er von innen mit der Zunge stützte; dann nahm er dem Gasthofdiener das Handtuch von der Schulter und trocknete sich damit sein volles Gesicht ab, indem er bei den Ohren anfing und dem Diener zunächst zweimal direkt ins Gesicht nieste; dann legte er sich vor dem Spiegel ein Vorhemd an, zupfte sich zwei Härchen aus der Nase und stand plötzlich in einem Frack von preißelbeerfarbenem Tuche mit Glanz da. Nachdem er sich auf diese Weise angekleidet hatte, fuhr er mit eigener Equipage durch die unendlich breiten Straßen, die nur vom spärlichen Lichte, das aus einigen Fenstern drang, beleuchtet waren. Das Haus des Gouverneurs war übrigens so glänzend beleuchtet, daß es auch bei einem Ball nicht besser hätte sein können; vor der Einfahrt hielten Wagen mit Laternen, vor der Tür standen zwei Gendarmen, in der Ferne schrien die Vorreiter – mit einem Worte, alles war so, wie es sich gehört. Als Tschitschikow den Saal betrat, mußte er für eine Weile die Augen zusammenkneifen, weil der Glanz der Lichter, der Lampen und der Damentoiletten einfach blendend war. Alles war mit Licht übergossen. Schwarze Fräcke huschten einzeln und rudelweise durch den Saal, wie die Fliegen an einem heißen Julitage ein Stück weißglänzende Raffinade umschwirren, das die alte Haushälterin vor einem offenen Fenster in funkelnde Stücke zerschlägt; die Kinder haben sich um sie versammelt und verfolgen neugierig die Bewegungen ihrer derben Hände, die den Hammer schwingen, und die leichten, vom luftigen Hauche emporgehobenen Fliegenschwadronen fliegen kühn, wie die rechtmäßigen Herren, herein und umschwirren, sich die Kurzsichtigkeit der Alten und die Sonne, die ihre Augen blendet, zunutze machend, bald vereinzelt und bald in dichten Haufen, die leckeren Stücke. Gesättigt vom reichen Sommer, der ohnehin auf Schritt und Tritt die leckersten Speisen bereitstellt, kamen sie hereingeflogen, durchaus nicht um zu essen, sondern nur um sich zu zeigen, auf den Zuckerhaufen zu spazieren, die Vorder- oder Hinterfüßchen gegeneinander zu reiben, oder sich mit ihnen unter den Flügelchen zu kratzen, oder um sich mit vorgestreckten Vorderfüßchen den Kopf zu jucken, umzukehren, hinauszufliegen und dann in neuen lästigen Schwadronen wiederzukommen. Tschitschikow hatte kaum Zeit gehabt, sich umzusehen, als der Gouverneur ihn schon am Arme packte und