Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца. Стефан Цвейг

Читать онлайн.
Название Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца
Автор произведения Стефан Цвейг
Жанр
Серия Exklusive Klassik
Издательство
Год выпуска 1938
isbn 978-5-17-155566-5



Скачать книгу

standgehalten. Jetzt können sie wenigstens von mir nicht denken, daß ich mich ihnen aufdrängen will.

      Obwohl ich Ilona zugesagt hatte, am nächsten Nachmittag zur gewohnten Stunde zu kommen, melde ich vorsichtigerweise meinen Besuch noch vorher telephonisch an. Besser strenge Formen einhalten, Formen sind Sicherungen. Ich will damit klarmachen, daß ich niemandem unerwünscht ins Haus falle, ich will von nun ab jedesmal anfragen, ob mein Besuch erwartet und gern erwartet ist. Das allerdings brauche ich diesmal nicht zu bezweifeln, denn der Diener wartet bereits vor der geöffneten Tür, und gleich beim Eintreten vertraut er mir mit dringlicher Beflissenheit an: »Das gnädige Fräulein sind auf der Turmterrasse und lassen Herrn Leutnant bitten, gleich hinaufzukommen.« Und er fügt hinzu: »Ich glaube, Herr Leutnant sind noch niemals oben gewesen. Herr Leutnant werden staunen, wie schön es dort ist.«

      Er hat recht, der wackere alte Josef. Ich hatte wirklich noch nie jene Turmterrasse betreten, wiewohl dies merkwürdige und abstruse Gebäude mich oftmals interessiert hatte. Ursprünglich – ich sagte es bereits früher – der Eckturm eines längst zerfallenen oder abgerissenen Schlosses (selbst die Mädchen kannten die Vorgeschichte nicht genau), hatte dieser wuchtige vierkantige Turm durch Jahre hindurch leer gestanden und als Speicher gedient; während ihrer Kindheit war Edith zum Schrecken ihrer Eltern oftmals auf den ziemlich defekten Leitern emporgeklettert bis in den Dachraum, wo zwischen altem Gerümpel Fledermäuse schlaftrunken schwirrten und bei jedem Schritt über die alten vermorschten Balken Staub und Moder in dicker Wolke aufquoll. Aber das phantastisch veranlagte Kind hatte dieses unnütze Gemach, das von den verschmutzten Fenstern unbeschränkten Blick in die Ferne gab, gerade wegen seiner geheimnisvoll nutzlosen Art sich als eigenste Spielwelt und Versteck gewählt; und als dann das Unglück kam und sie nicht mehr hoffen durfte, jemals wieder mit ihren damals noch völlig unbeweglichen Beinen jene hochgelegenen romantischen Rumpelkammern zu erklimmen, fühlte sie sich wie beraubt; oft beobachtete der Vater, wie sie mit bitterem Blick hinaufsah zu diesem geliebten und plötzlich verlorenen Paradies ihrer Kinderjahre.

      Um sie zu überraschen, nützte nun Kekesfalva die drei Monate, die Edith in einem deutschen Sanatorium verbrachte, um einen Wiener Architekten zu beauftragen, den alten Turm umzubauen und oben eine bequeme Aussichtsterrasse anzulegen; als Edith im Herbst nach kaum merkbarer Besserung ihres Zustandes zurückgebracht wurde, war der aufgestockte Turm bereits mit einem Lift versehen, breit wie der eines Sanatoriums, und der Kranken damit Gelegenheit gegeben, zu jeder Stunde im Rollstuhl zu dem geliebten Ausblick hinaufzufahren; die Welt ihrer Kindheit war ihr damit unvermutet zurückgewonnen.

      Auf Stilreinheit war freilich der etwas eilige Architekt weniger bedacht gewesen als auf technische Bequemlichkeit; der nackte Kubus, welchen er dem schroffen, vierkantigen Turm aufgestülpt hatte, hätte mit seinen geometrisch geraden Formen viel eher in ein Hafendock oder zu einem Elektrizitätswerk als zu den behaglichen schnörkeligen Barockformen des wohl auf die Maria-Theresianische Zeit zurückreichenden Schlößchens gepaßt. Aber der wesentliche Wunsch des Vaters erwies sich als geglückt; Edith zeigte sich völlig begeistert von dieser Terrasse, die sie in unverhoffter Weise von der Enge und Einförmigkeit ihrer Krankenstube erlöste. Von diesem ihrem eigensten Aussichtsturm aus konnte sie mit Ferngläsern die weite tellerflache Landschaft überschauen, alles was im Umkreis geschah, Saat und Mahd, Geschäft und Geselligkeit. Nach endloser Abgeschiedenheit wieder mit der Welt verbunden, blickte sie stundenlang von dieser Warte auf das muntere Spielzeug der Eisenbahn, die mit ihrem kleinen Rauchkringel die Landschaft durchquerte, kein Wagen auf der Chaussee entging ihrer müßigen Neugier, und wie ich später erfuhr, hatte sie auch viele unserer Ausritte, Übungen und Paraden mit ihrem Teleskop begleitet. Aus einer merkwürdigen Eifersucht heraus hielt sie aber diesen ihren abseitigen Ausflugsplatz vor allen Hausgästen als ihre Privatwelt verborgen; erst an der impulsiven Begeisterung des treuen Josef merkte ich, daß die Einladung, diese sonst unzugängliche Warte zu betreten, als eine besondere Auszeichnung gewertet werden sollte.

      Der Diener wollte mich mit dem eingebauten Lift hinaufführen; man sah ihm den Stolz an, daß dieses kostspielige Vehikel ihm zu alleiniger Führung anvertraut war. Aber ich lehnte ab, sobald er mir berichtete, daß außerdem noch eine kleine, von seitlichen Loggiendurchbrüchen in jedem Stockwerk erhellte Wendeltreppe zur Dachterrasse emporführe; ich malte mir gleich aus, wie anziehend es sein müßte, von Treppenabsatz zu Treppenabsatz die Landschaft sich immer weiter ins Ferne auffalten zu sehen; tatsächlich bot jede dieser schmalen unverglasten Luken ein neues bezauberndes Bild. Über dem sommerlichen Lande lag wie ein goldenes Gespinst ein windstiller, durchsichtig heißer Tag. In fast reglosen Ringen schnörkelte sich der Rauch über den Schornsteinen der verstreuten Häuser und Höfe, man sah – jede Kontur wie mit einem scharfen Messer aus dem stahlblauen Himmel geschnitten – die strohgedeckten Hütten mit ihrem unvermeidlichen Storchennest auf dem Giebel, und die Ententeiche vor den Scheunen blitzten wie geschliffenes Metall. Dazwischen in den wachsfarbenen Feldern liliputanisch winzige Figuren, weidende Kühe in gesprenkelten Farben, jätende und waschende Frauen, ochsengezogene schwere Gespanne und behend hinflitzende Wägelchen inmitten der sorgfältig rastrierten Felderkarrees. Als ich die etwa neunzig Stufen emporgestiegen war, umfaßte der Blick gesättigt die ganze Runde des ungarischen Flachlands bis an den leicht dunstigen Horizont, wo in der Ferne ein erhobener Streifen blaute, vielleicht die Karpathen, und zur Linken leuchtete zierlich zusammengedrängt unser Städtchen mit seinem zwiebligen Turm. Freien Auges erkannte ich unsere Kaserne, das Rathaus, das Schulhaus, den Exerzierplatz, zum erstenmal seit meiner Transferierung in diese Garnison empfand ich die anspruchslose Anmut dieser abseitigen Welt.

      Aber mich gelassen dieser freundlichen Schau hinzugeben, ging nicht an, denn, bereits an die flache Terrasse emporgelangt, mußte ich mich bereitmachen, die Kranke zu begrüßen. Zunächst entdeckte ich Edith überhaupt nicht; der weiche Strohfauteuil, in dem sie ruhte, wandte mir seine breite Rücklehne zu, die wie eine bunte wölbige Muschel ihren schmalen Körper völlig verdeckte. Nur an dem danebenstehenden Tisch mit Büchern und dem offenen Grammophon gewahrte ich ihre Gegenwart. Ich zögerte, zu unvermittelt gegen sie vorzutreten; das konnte die Ruhende oder Träumende vielleicht erschrecken. So wanderte ich das Viereck der Terrasse entlang, um ihr lieber Auge in Auge entgegenzukommen. Aber da ich behutsam nach vorne schleiche, merke ich, daß sie schläft. Man hat den schmalen Körper sorgfältig eingebettet, eine weiche Decke um die Füße geschlagen, und auf einem weißen Kissen ruht, ein wenig zur Seite geneigt, das ovale, von rötlichblondem Haar umrahmte Kindergesicht, dem die schon sinkende Sonne einen bernsteingoldenen Schein von Gesundheit leiht.

      Unwillkürlich bleibe ich stehen und nutze dies zögernde Warten, um die Schlafende wie ein Bild zu betrachten. Denn eigentlich habe ich bei unserem oftmaligen Beisammensein noch nie wirklich Gelegenheit gehabt, sie geradewegs anzuschauen, denn wie alle Empfindlichen und Überempfindlichen leistet sie einen unbewußten Widerstand, sich betrachten zu lassen. Auch wenn man sie nur zufällig im Gespräch anblickt, spannt sich sofort die kleine ärgerliche Falte zwischen den Brauen, die Augen werden fahrig, die Lippen nervös, nicht einen Augenblick gibt sich unbewegt ihr Profil. Nun erst, da sie mit geschlossenen Augen liegt, widerstandlos und reglos, kann ich (und ich habe das Gefühl eines Ungehörigen, eines Diebstahls dabei) das ein wenig eckige und gleichsam noch unfertige Antlitz betrachten, in dem sich Kindliches mit Fraulichem und Kränklichem auf die anziehendste Weise mischt. Die Lippen, leicht wie die eines Dürstenden aufgetan, atmen sacht, aber schon diese winzige Anstrengung hügelt und hebt ihre kindlich karge Brust, und wie erschöpft davon, wie ausgeblutet lehnt das blasse Gesicht, eingebettet in das rötliche Haar, in den Kissen. Ich trete vorsichtig näher. Die Schatten unter den Augen, die blauen Adern an den Schläfen, der rosige Durchschein der Nasenflügel verraten, mit wie dünner und farbloser Hülle die alabasterblasse Haut dem äußeren Andrang wehrt. Wie empfindlich muß man sein, denke ich mir, wenn so nah, so unbeschirmt die Nerven unter der Oberfläche pochen, wie unermeßlich leiden mit solch einem flaumleichten elfischen Leibe, der wie zum leichten Lauf geschaffen scheint, zu Tanz und Schweben, und dabei grausam der harten schweren Erde verkettet bleibt! Armes gefesseltes Geschöpf – abermals fühle ich das heiße Quellen von innen, jenen schmerzhaft erschöpfenden und gleichzeitig wild erregenden Aufschwall des Mitleids, der mich jedesmal übermannt, wenn ich an ihr Unglück denke; mir zittert die Hand vor Verlangen, ihr zart über den Arm zu streichen, mich hinzubeugen über sie und das Lächeln gleichsam wegzupflücken von ihren Lippen, falls sie aufwacht und mich erkennt.