Название | Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца |
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Автор произведения | Стефан Цвейг |
Жанр | |
Серия | Exklusive Klassik |
Издательство | |
Год выпуска | 1938 |
isbn | 978-5-17-155566-5 |
Unsinn, sage ich mir dann wieder und erinnere mich, wie erschüttert der alte Mann meinen Ärmel gestreichelt, wie jedesmal sein Gesicht hell wird, kaum daß ich die Tür hereintrete. Ich erinnere mich an die herzliche, brüderlich-schwesterliche Kameradschaft, die mich mit den beiden Mädchen verbindet; die achten gewiß nicht darauf, ob ich vielleicht ein Glas zuviel trinke, und wenn sie’s merken, so freut sie’s doch nur, daß ich’s mir bei ihnen wohl sein lasse. Unsinn, Irrsinn, wiederhole ich mir immer wieder, Unsinn – dieser alte Mann liebt mich mehr als mein eigener Vater.
Aber was hilft alles Sichzureden und Sichaufrichten, wenn einmal das innere Gleichgewicht ins Schwanken gekommen ist! Ich spüre: das Schmatzen und Staunen von Jozsi und Ferencz hat mir meine gute, meine leichte Unbefangenheit zerstört. Gehst du wirklich nur aus Mitleid, nur aus Mitgefühl zu diesen reichen Leuten, frage ich mich argwöhnisch? Steckt nicht auch ein gutes Stück Eitelkeit und Genießerei dahinter? Jedenfalls, da muß Klarheit geschaffen werden. Und als erste Maßnahme beschließe ich, von nun ab Pausen in meine Visiten einzuschalten und gleich morgen den üblichen Nachmittagsbesuch bei den Kekesfalvas zu unterlassen.
* * *
Ich bleibe also am nächsten Tage aus. Gleich nach Beendigung des Dienstes bummle ich mit Ferencz und Jozsi hinüber ins Café, wir lesen die Zeitung und beginnen dann den unvermeidlichen Tarock. Aber ich spiele verdammt schlecht, denn gerade mir gegenüber ist in der getäfelten Wand eine runde Uhr eingelassen: vier Uhr zwanzig, vier Uhr dreißig, vier Uhr vierzig, vier Uhr fünfzig, anstatt die Tarocke richtig mitzuzählen, zähle ich die Zeit. Halb fünf, da rücke ich gewöhnlich an zum Tee, alles steht gedeckt und bereit, und wenn ich mich einmal um eine Viertelstunde verspäte, so sagen und fragen sie schon: »Was war denn heute los?« So selbstverständlich ist mein pünktliches Kommen bereits geworden, daß sie damit wie mit einer Verpflichtung rechnen; seit zweieinhalb Wochen habe ich keinen Nachmittag versäumt, und wahrscheinlich blicken sie jetzt genau so unruhig wie ich selbst auf die Uhr und warten und warten. Ob sich’s nicht doch gehören würde, daß ich wenigstens hinaustelephonierte, um abzusagen? Oder vielleicht noch besser, ich schicke meinen Burschen …
»Aber Toni, das ist doch ein Skandal, was du heut zusamm’patzt. Paß doch anständig auf«, ärgerte sich der Jozsi und sieht mich ganz fuchtig an. Meine Zerstreutheit hat ihn ein Rekontra gekostet. Ich raffe mich zusammen.
»Sag, kann ich mit dir Platz tauschen?«
»Natürlich, aber warum denn?«
»Ich weiß nicht«, lüge ich, »ich glaube, der Lärm in der Bude hier macht mich so nervios.«
In Wirklichkeit ist es die Uhr, die ich nicht ansehen will, und ihr unerbittliches Vorrücken Minute um Minute. Ein kribbeliges Gefühl sitzt mir in den Nerven, immer wieder flattern mir die Gedanken weg, immer wieder bedrückt’s mich, ob ich nicht doch ans Telephon gehen und mich entschuldigen sollte. Zum erstenmal beginne ich zu ahnen, daß wirkliche Teilnahme sich nicht einschalten und abschalten läßt wie ein elektrischer Kontakt, und jedwedem, der teilnimmt an fremdem Schicksal, etwas genommen wird an Freiheit des eigenen.
Aber Kreuzteufel, fahre ich mich selber an, ich bin doch nicht verpflichtet, täglich die halbe Stunde weit hinauszustiefeln. Und gemäß dem geheimen Gesetz der Gefühlsverschränkung, demzufolge ein Geärgerter seinen Ärger unbewußt gegen ganz Unbeteiligte weitergibt wie eine Billardkugel den empfangenen Stoß, wendet sich meine Verstimmung statt gegen Jozsi und Ferencz gegen die Kekesfalvas. Sie sollen nur einmal auf mich warten! Sollen sehen, daß ich mit Geschenken und Liebenswürdigkeiten nicht zu kaufen bin, daß ich nicht auf die Stunde antrete wie der Masseur oder Turnlehrer. Nur kein Präjudiz schaffen, Gewohnheit verpflichtet, und ich will mich nicht festlegen. So versitze ich in meinem dummen Trotz dreieinhalb Stunden bis halb acht im Kaffeehaus, einzig um mir einzureden und zu beweisen, daß ich vollkommen frei bin, zu kommen und zu gehen, wann ich will, und daß mir das gute Essen und die noblen Zigarren der Kekesfalvas total gleichgültig sind.
Um halb acht Uhr machen wir uns zusammen auf. Ferencz hat einen kleinen Bummel über den Korso vorgeschlagen. Aber kaum daß ich hinter den beiden Freunden aus dem Kaffeehaus trete, streift mich ein bekannter Blick im raschen Vorübergehen an. Ist das nicht Ilona gewesen? Natürlich – selbst wenn ich das weinrote Kleid und den breiten bebänderten Panamahut nicht gerade vorgestern bewundert hätte, würde ich sie von rückwärts erkannt haben an dem weichen, wiegenden Hüftgang. Aber wohin eilt sie denn so hitzig? Das ist doch kein Promenierschritt, sondern eher Sturmlauf – jedenfalls dem hübschen Vogel nach, so geschwind er auch flattern mag!
»Pardon«, empfehle ich mich etwas brüsk von meinen verblüfften Kameraden und eile dem schon über die Straße wehenden Rock nach. Denn wirklich, ich freue mich unbändig über den Zufall, die Kekesfalvanichte einmal in meiner Garnisonswelt zu erwischen.
»Ilona, Ilona, stopp, stopp!« rufe ich ihr nach, die merkwürdig rasch geht; schließlich bleibt sie doch stehen, ohne dann im geringsten überrascht zu tun. Natürlich hat sie mich bei dem Vorüberstreifen längst bemerkt.
»Das ist famos, Ilona, daß ich Sie einmal in der Stadt erwische. Das hab ich mir schon lang gewünscht, einmal mit Ihnen spazierenzugehen in unserer Residenz. Oder wollen wir lieber noch auf einen Sprung hinein in die wohlbekannte Konditorei?«
»Nein, nein«, murmelt sie etwas verlegen. »Ich habe Eile, man erwartet mich zu Hause.«
»Nun, dann wird man eben fünf Minuten länger warten. Im ärgsten Fall, nur damit man Sie nicht ins Winkerl stellt, gebe ich Ihnen sogar einen Entschuldigungsbrief mit. Kommen Sie und blicken Sie nicht so bitter streng.«
Am liebsten würde ich sie unter dem Arm fassen. Denn ich freue mich ehrlich, gerade ihr, der Repräsentablen von den beiden, in meiner andern Welt zu begegnen, und wenn die andern, die Kameraden, mich mit ihr, der Bildhübschen, ertappen, um so besser! Aber Ilona bleibt nervös.
»Nein, ich muß wirklich nach Hause«, sagt sie hastig, »dort drüben wartet schon das Auto.« Und in der Tat, vom Rathausplatz her grüßt bereits respektvoll der Chauffeur.
»Aber wenigstens zum Auto darf ich Sie doch begleiten?«
»Natürlich«, murmelte sie merkwürdig fahrig. »Natürlich … übrigens … warum sind Sie denn heute nachmittag nicht gekommen?«
»Heute nachmittag?« frage ich mit Absicht langsam, als ob ich mich erinnern müsse. »Heute nachmittag? Ach ja, das war eine dumme Geschichte heute nachmittag. Der Oberst wollte sich ein neues Pferd kaufen und da mußten wir alle mitgehen, es anschauen und zureiten.« (In Wirklichkeit hatte sich das schon vor einem Monat abgespielt. Ich lüge wirklich schlecht).
Sie zögerte und will etwas erwidern. Aber warum zerrt sie am Handschuh, warum wippt sie so nervös mit dem Fuß? Dann sagt sie plötzlich hastig: »Wollen Sie nicht wenigstens jetzt mit mir hinaus zum Abendessen?«
Durchhalten, sage ich mir innerlich rasch. Nicht nachgeben! Wenigstens einmal einen einzigen Tag! So seufze ich bedauernd. »Wie schade, ich käme ja furchtbar gerne. Aber der heutige Tag ist schon ganz verknackst, wir haben abends eine gesellige Veranstaltung, und da darf ich nicht fehlen.«
Sie sah mich scharf an – merkwürdig, daß sich jetzt dieselbe ungeduldige Falte zwischen ihren Brauen spannt wie bei Edith – und sagt kein Wort, ich weiß nicht, ob aus bewußter Unhöflichkeit oder Geniertheit. Der Chauffeur öffnet ihr die Tür, sie schlägt sie krachend zu und fragt durch die Scheibe: »Aber morgen kommen Sie?«
»Ja, morgen bestimmt.« Und schon fährt das Auto los.
Ich bin nicht sehr zufrieden mit mir. Warum diese merkwürdige Eile Ilonas, diese Geniertheit, als fürchte sie sich, mit mir gesehen zu werden, und wozu dieses hitzige Losfahren? Und dann: wenigstens einen Gruß hätte ich höflicherweise mitschicken sollen an