Der goldene Kürbis. Masal Dorothea

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Название Der goldene Kürbis
Автор произведения Masal Dorothea
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Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783954528318



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in Wirklichkeit ein totaler Feigling. Ich habe widersprochen und sie wollten Beweise. Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich dieser Mutprobe zugestimmt habe. Sie haben mich provoziert und das wollte ich eben nicht auf mir sitzen lassen. Also habe ich eingewilligt, in der Halloween-Nacht in die Gruselvilla einzusteigen. Ich meine in diese Villa hier – denke ich … Deshalb auch mein bewaffnetes Outfit. Das ist nur ein Halloweenkostüm mit unechten Waffen. Eine Verkleidung. Wie die Leute sie hier auch auf dem Maskenball tragen.« Es war ein komisches Gefühl, die ganzen Ereignisse des letzten Monats zu erzählen. Und das auch noch einem völlig fremden Jungen. Es hieß immer, dass man sich besser fühlt, wenn man sich erst einmal all seinen Frust und die Sorgen von der Seele geredet hatte. Auf Katie traf das jedenfalls nicht zu. Ein komisches Gefühl von ungewohnter Verletzlichkeit breitete sich in ihr aus und nagte an ihren Nerven.

      Es folgte ein langes Schweigen im Raum, was ihr ein noch unbehaglicheres Gefühl gab. Sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte: Fenster, Kamin oder Nicolas? Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Naja, das war meine Geschichte. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich hier eingestiegen bin und jetzt nicht mehr rauskomme.«

      »Ihr meint, weil ich Euch gefangen halte.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein süffisantes Schmunzeln aus.

      »Neeeeiiiin.« Am liebsten hätte sie ihm die Zunge rausgestreckt. Um ihre Situation nicht noch weiter zu verschlechtern, beließ sie es bei einem vernichtenden Blick. »Du wirst es mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Aber bitte, ich zeige es dir.«

      Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Nicolas verfolgte misstrauisch jeden ihrer Schritte. Als sie nach dem Fenstergriff fasste, sprang er ruckartig vom Tisch auf.

      »Ruhig Brauner! Du brauchst gar nicht so nervös zu schauen. Ich komme hier sowieso nicht raus.« Sie griff durch das geöffnete Fenster in die Dunkelheit. Weit kam sie mit der ausgestreckten Hand allerdings nicht, da blieb sie bereits an der unsichtbaren Barriere hängen. Nicolas sah sie skeptisch an und setzte wieder sein überhebliches Grinsen auf.

      »Verzeiht, wenn ich das sage, aber das beweist gar nichts. Auch ich könnte so tun, als ob meine Hand nicht weiter aus dem Fenster reicht.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte spöttisch den Kopf. Katie fühlte sich endgültig beleidigt. Glaubte er etwa, sie machte sich hier einen Spaß? Sein Ego ging ihr langsam gewaltig auf die Nerven.

      Entschlossen ging sie in die Hocke, holte Schwung und sprang mit voller Kraft aufs Fensterbrett. Sofort fuhr ein Ruck durch Nicolas Körper und er versuchte sie an ihrem Kleid festzuhalten. Zu langsam.

      Mit einem Hechtsprung warf sich Katie in die kühle Abendluft hinaus. Für einen Moment glaubte sie an eine gelungene Flucht und spürte den Sog der Erdanziehung. Doch dann kam ein weiteres Gefühl hinzu: der Widerstand der unsichtbaren Barriere.

      Katie wurde ruckartig abgebremst, kam zum Stillstand und wurde dann mit voller Wucht zurück ins Zimmer katapultiert. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um sich irgendwo festhalten zu können. Aber ihre Finger bekamen nichts zu fassen. Sie stürzte zurück ins Zimmer und kam schmerzlich mit dem Rücken auf dem Boden auf. Nur ihr Kopf landete auf etwas Weichem, das dafür sorgte, dass sie sich nicht ernsthaft verletzte. Das stoppte allerdings nicht den Lungenschock, der Katie für einen Moment sämtliche Luft nahm. Sterne tanzten vor ihren Augen und hinterließen grelle Lichtspuren. Der Raum drehte sich.

      Als sie wieder ein halbwegs klares Sichtfeld bekam, entdeckte sie Nicolas halb unter sich liegend. Ein Stöhnen erklang und sein Körper zuckte. Langsam wühlte er sich unter ihrem Kopf hervor, stand auf und streckte ihr hilfsbereit eine Hand entgegen.

      »Alles in Ordnung bei Euch, Katie?« Hatte sie gerade richtig gehört? Er hatte sie Katie genannt. Trotz ihres schmerzenden Rückens musste sie grinsen.

      »Ja danke, alles bestens. Bis auf die Tatsache, dass ich hier gefangen bin und dank dir jetzt einen angeknacksten Rücken habe.« Als ob sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, knackte ihr Rücken beim Aufstehen laut. Nicolas lachte und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen eigenen Hinterkopf. Katie stellte fest, dass sein Lachen dieses Mal echt und … unbeschwert klang. Er setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber. Katie schaute zu ihm hinüber. Für einen Moment hatte sie ihre Angst völlig vergessen und verspürte ein ausgelassenes Gefühl, das sie seit einem Monat vermisst hatte. Nicolas schaute ebenfalls überrascht, räusperte sich dann aber, als er merkte, dass einer der Wachen in der Tür stand und mit besorgtem Blick auf einen Befehl wartete. Er winkte den Wachmann beschwichtigend hinaus und half Katie zurück in den Gästestuhl.

      Nicolas nahm dieses Mal auf dem großen Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Nachdenklich fuhr er mit seinen Händen durch das zerzauste Haar und verstrubbelte es vollkommen. Katie musste neidisch feststellen, dass es dennoch gut aussah. Ihr eigenes dagegen musste mittlerweile einem Vogelnest ähneln, denn spätestens nach ihrem letzten Sturz hatte sich der Knoten ihres Zopfes deutlich gelockert und einige Strähnen freigegeben.

      »Wie ich bereits mehrmals sagte, habe ich leider nicht viel Zeit. Aber wahrscheinlich hängt Euer Schicksal genauso von diesem Abend ab wie das meine.«

      Katie rollte mit den Augen. Schon wieder diese geschwollene Ausdrucksweise. Unterbewusst hatte sie sich schon die ganze Zeit gewundert, warum Nicolas sie ständig mit »Euch« ansprach. Das klang fast so wie in den historischen Romanen, die man im Literaturunterricht las. »Sorry, aber das klingt ein bisschen melodramatisch. Wieso hängt unser Schicksal von diesem Abend ab? Also meins schon, aber mir droht man ja auch mit dem Kerker.«

      Nicolas ging nicht auf die Anspielung ein. Sein Gesicht hatte wieder einen ernsten Ausdruck angenommen. »Passt auf. Wir schreiben das Jahr 1670.«

      »1670? Du meinst wohl eher 2020.«

      »Nein, Ihr habt mich richtig verstanden.«

      »Bin ich etwa in der Vergangenheit?«

      Schockiert richtete sich Katie im Stuhl auf. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Wirbelsäule. Hoffentlich hatte sie sich bei dem Sturz nicht das Steißbein gebrochen oder etwas anderes Schlimmes zugezogen. Wie war überhaupt die medizinische Versorgung im 17. Jahrhundert? Quatsch, jetzt fing sie auch schon damit an. Sie befand sich im 21. Jahrhundert!

      »Scheinbar stammt Ihr aus einer anderen Zeit. Das erklärt auch Eure mir ungewohnte Ausdrucksweise. Und die Tatsache, dass Ihr mich nicht meines Standes gemäß mit ›Prinz‹ ansprecht.«

      »Du bist ein Prinz?!«, Katie wäre fast vom Stuhl gefallen, hätte sie sich nicht vor Überraschung an der Lehne festgekrallt. Nicolas lachte herzhaft.

      »Eigentlich der Sohn des Großherzog von Agravain. Damit bin ich Erbgroßherzog. Aber man spricht mich mit ›Prinz‹ an.«

      Sie konnte nicht anders, als Nicolas mit offenem Mund anzustarren.

      »Bitte Katie, holt wieder Luft. Ich habe schon seit längerem den Verdacht, dass wir hier in einer Zeitschleife feststecken, während außerhalb der Villa die Zeit weiterläuft. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem Verschwinden des goldenen Kürbis zu tun.«

      »Moment, was?« Ein völlig verständnisloser Blick ihrerseits reichte diesmal aus, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.

      »Na schön. Am besten erzähle ich Euch jetzt meine Geschichte. Wir schreiben das Jahr 1670. Das große Halloween-Jahr, wie alle fünfzig Jahre. Immer dann stehen die Sterne und Planeten am Himmel in einer seltenen Konstellation zueinander. Da Ihr etwas von einem Halloween-Ball an Eurer Schule erzählt habt, könnte das zeitlich passen. Ich gehe davon aus, dass Ihr die Geschichte um Jack O‘Latern kennt?«

      Sie wischte sich eine Strähne aus den Augen und rückte sich wieder auf dem Stuhl zurecht. »Na klar. Es wird behauptet, dass ein Mann namens Jack zu seinen Lebzeiten den Teufel überlistet hätte. Jack hat einen Handel mit dem Teufel geschlossen, sodass er nie wieder Angst vor ihm haben musste. Als er dann starb, ist er deswegen weder im Himmel noch in der Hölle aufgenommen worden. Der Teufel schenkte ihm ein Stück glühende Kohle, das Jack dann in einer ausgehöhlten Rübe mit sich trug, um den Weg zwischen den Welten zu beleuchten.«

      »Genau.