Stille Pfade. Philipp Lauterbach

Читать онлайн.
Название Stille Pfade
Автор произведения Philipp Lauterbach
Жанр
Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783944771311



Скачать книгу

ihre Agenda gesetzt hatte. Selbst aus wirtschaftlicher Perspektive ergab der Plan für den Magier kein Sinn – war sogar schädlich für die Zukunft Freistadts. Erstens würde neue Zuwanderung den Bedarf an Lebensmitteln erneut in die Höhe treiben. Und diese waren aktuell schon dermaßen knapp, dass bereits Kinder im Äußeren Ring verhungerten. Sicherlich, spielte Stanislaw das Szenario durch, Freistadt könnte einfach mehr Nahrung in der Südlichen Provinz ordern. Doch wer sollte die anbauen? Die Bauern? Die wären ja zum Großteil hier. Zweitens besaß Freistadt bereits die nötigen Arbeitskräfte für die Zukunft, flocht er den Pfaden weiter, diese waren nur noch nicht alt genug, um in den Fabriken mitzuarbeiten. Im Zuge der letzten Dekade ist die Stadtbevölkerung dermaßen rasant gewachsen, dass jeder Bauer aus dem Süden, der heute als Unterstützung nach Freistadt kam, morgen ein Problem war. Der Magier war sich bewusst, dass viele der Senatsmitglieder zu kurzsichtig für diese Problematik waren. Doch war ihm ebenso klar, dass dies bei Stefanie nicht der Fall war. Aber warum dann die Bauernbefreiung? An dieser Stelle blieb Stanislaw hängen. Immer wieder. Ihm fehlte schlichtweg ein finales Puzzleteil, ein entscheidendes Detail, um das Gesamtbild zu erkennen. Unzufrieden lehnte er sich in dem ungemütlichen Holzstuhl zurück und begann von vorne.

      „Sie ist mit dem Abgesandten alleine in ihrem Büro?“, schallte es wütend den langen Flur entlang. Stanislaw kannte die Stimme. Sie gehörte Major Stein. „Benutzt denn niemand in diesem Scheißladen seinen Verstand?“

      „Aber Major Stein …“, erklang stockend die eingeschüchterte Stimme des Assistenten.

      „Nix aber! Da kommt ein Abgesandter des Kaisers, ohne Begleitung und mitten in der Nacht - klammheimlich - nach Freistadt, und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als ihn alleine mit der Senatsvorsitzenden in einen Raum zu setzten?“ Die energischen Stiefeltritte Steins drangen trotz des weichen Teppichbodens im Flur bis zu Stanislaw. Stein zürnte lautstark weiter: „Was ist, wenn es sich um einen Attentäter handelt? Da können Sie ihm ja gleich ein Messer geben!“ Seinem Grollen folgend, kam der Major um die Ecke des Flurs gerauscht und bewegte sich mit wuchtigen Schritten auf das Büro der Senatsvorsitzenden zu. Sein Ledermantel, der ihn als Mitglied der Stadtwache auswies, wehte hinter ihm her. Er machte nicht den Anschein, als wolle er auf einem der Stühle vor dem Büro geduldig Platz nehmen.

      Hinter dem Leibwächter bemerkte der Assistent vorwurfsvoll: „Sie waren ja nicht vor Ort, sondern lieber bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“ Das schmächtige Kerlchen hatte nicht einmal ausgesprochen, da hatte Stein bereits auf dem Absatz Kehrt gemacht. Es sah so aus, als wolle der Assistent weglaufen, wusste jedoch nicht wohin.

      „Was haben Sie da gerade gesagt?“ Major Stein baute sich in voller Größe vor seinem Gegenüber auf. Er vibrierte vor Zorn. „Tun Sie kleiner Bürokratenarsch mir den Gefallen und wiederholen Sie das!“

      Stille. Dann leise, aber entschieden, vom Assistenten: „Sie waren nicht hier, sondern bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“

      Das ist mutig, gestand Stanislaw und rückte amüsiert seine Manschettenknöpfe zurecht. Ich hätte mir das zweimal überlegt. Ohne die beiden direkt anzublicken, lehnte er sich interessiert zur Seite. Dieser Stuhl war wirklich die Hölle.

      „Ich war nicht bei der Morgeninspektion, Sie Pfeife!“, stellte Stein unmissverständlich klar. „Ich musste in eines der Reviere, weil gestern Nacht zwei Stadtwachen halb totgeschlagen wurden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie in der Zwischenzeit einen Tag der offenen Tür bei der Senatsvorsitzenden ausrichten!“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, machte der Major erneut Kehrt und setzte seinen Weg zum Büro von Stefanie Seidel fort. Der Assistent trollte sich schnellstmöglich vom Flur.

      „Guten Morgen, Herr Major“, begrüßte Stanislaw den Herannahenden nüchtern und erhob sich von seinem Platz.

      „Guten Morgen, Herr Professor“, kam es ebenso neutral und beherrscht zurück. „Bereit?“

      Stanislaw schloss mit flinken Fingern den obersten Knopf seines Sakkos. „Bereit.“ Er schätzte die professionelle Art des Majors.

      Der Leibwächter wollte gerade an der lederverkleideten Bürotür klopfen, als diese aufgerissen wurde. Instinktiv machte Stanislaw einen Schritt zurück und verstärkte den Griff um seinen Gehstock, an dessen Spitze der rötlich funkelnde Pyrop bedrohlich zu schimmern begann. Auch der Major reagierte reflexartig, doch machte dieser im Gegensatz zu Stanislaw einen Schritt nach vorne und griff dabei blitzschnell unter seinen Ledermantel.

      „Wenn das Ihr letztes Wort ist, wehrte Senatsvorsitzende, werde ich es der Kaiserin so überbringen müssen.“ Der Abgesandte stand verärgert vor der geöffneten Tür. „Die Kaiserin hegte die Hoffnung, Freistadt sei in dieser Hinsicht kooperativer.“

      „Bitte verstehen Sie meine Entscheidung nicht als Absage an das Kaiserreich“, erklärte Stefanie Seidel höflich. „Es ist nun einmal eine unserer Grundprinzipien, dass alle Maschinen – und auch die dazugehörigen Pläne und Skizzen – unverrückbares Eigentum des jeweiligen Besitzers sind. Selbst wenn ich Ihnen derartiges als Senatsvorsitzende geben wollte, dürfte ich es nicht.“

      „Auch dies werde ich der Kaiserin berichten“, nahm der Abgesandte den Beschwichtigungsversuch ungerührt zur Kenntnis und wandte sich den beiden Menschen auf der anderen Seite des Türrahmens zu. Abschätzig musterte er beide.

      Während er den aschblonden Mann mit Kurzhaarschnitt und schwerem Ledermantel schnell einzuordnen vermochte, verharrte sein Blick ungleich länger bei Stanislaw. Scheinbar konnte er sich aufgrund des karierten Stoffanzuges und dem edlen Gehstock nicht zwischen Unternehmer und Gelehrten entscheiden. Denn entdeckte er den Pyrop, der noch immer am Knauf des Gehstockes leuchtete. Die Geringschätzung im Gesicht des Abgesandten wich offener Feindseligkeit.

      Das Erscheinungsbild des Abgesandten entsprach in so ziemlich jedem Punkt den Vorurteilen, die man in Fünf Provinzen gegenüber dem kaiserlichen Volk pflegte: Der Mann mit der anthrazitfarbenen Hautton war riesig. Er überragte selbst Stein um mehr als einen Kopf und er war noch breiter gebaut - er passte nicht einmal durch die ausgreifende Bürotür der Senatsvorsitzenden. Nachdem der Kaiserliche mit gesenkten Kopf den Türrahmen passiert hatte, präsentierte er sich seiner physischen Überlegenheit bewusst in voller Pracht vor den beiden Menschen. Bedrohlich reflektierten seine überaus gepflegten und mit Silberbeschlägen verzierten Eckzähne, die eine gute Handbreit aus dessen Unterkiefer herausragten, das Licht im Flur. Sie wirkten auf Stanislaw eher wie kunstvoll manikürte Fingernägel, denn wie Stoßzähne. Der unverkennbare Geruch von Rosenwasser stieg dem Magier deutlich in die Nase.

      Die Kaiserlichen sind bei weitem nicht so unzivilisiert, wie sie die Akademie der Zauberkünste darzustellen versucht, gestand er sich ein. Die goldenen Augen des Abgesandten starrten ihn noch immer angewidert an und dessen körperliche Präsens wurde Stanislaw unangenehm. Der Magier trat die Flucht nach vorne an und streckte dem gepflegten Mann die Hand entgegen. „Guten Tag, wir wurden uns leider noch nicht vorgestellt. Professor Dr. Stanislaw von Weidenheim, erfreut Sie kennenzulernen.“ Die dunkelgraue Hand des Abgesandten rührte sich kein Stück.

      Die Begrüßung ignorierend schritt dieser einfach zwischen Stanislaw und Stein hindurch, wobei er die beiden Menschen an den Rand des Flures drängte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte der Mann mit langen Schritten davon. Stanislaw und der Major warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Stefanie stand noch immer in ihrem Büro und hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt. Resignierend schüttelte sie ihren blonden Lockenkopf.

      „Bitte kommt herein - und schließt die Tür hinter euch.“ Die Senatsvorsitzende vollführte eine einladende Geste als sie wieder hinter ihrem Schreibtisch angekommen war. „Bitte, nehmt Platz.“ Sie deutete auf zwei Holzstühle mit hellem Kalbsleder. Der wuchtige Eichentisch der Vorsitzenden thronte an der Rückwand des geräumigen Büros, direkt vor zwei scheinbar endlosen Glasfenstern und gegenüber dem stuckverzierten Kamin, indem aktuell nur noch eine schwache Glut loderte. Stanislaw hatte dem Major den Vortritt gelassen und schloss nun die gedämmte Bürotür hinter sich.

      Stein selbst ignorierte die dargebotenen Sitzplätze vollends und eilte direkt zu Stefanie hinter den Schreibtisch. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Frau Vorsitzende?“,