Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt

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Название Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen
Автор произведения József Wieszt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991310266



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Beitritt gewarnt hatte. Die Tante bestätigte mir, dass auch unsere Oma nicht beigetreten ist, dass sie aber mit ihren halbwüchsigen Töchtern gelegentlich zu Liederabenden der „Deutsche Jugend“ gegangen ist. „Dej haom doech sou schei gsunge!“ („Die haben doch so schön gesungen!“). Unsere Oma war eine herzensgute Frau, die von den Zielen Nazis keine Ahnung hatte. Dass die „einen Krieg gemacht hatten“, in dem einer ihrer Söhne umgekommen ist, verurteilte und bedauerte sie mir gegenüber immer wieder.

      Im April 1991, also genau 45 Jahre nach unserer Ausweisung aus Perbál, stand ich also vor dem halben Hakenkreuz an der Wand des ehemaligen Kuhstalls meiner Wiest-Großeltern und sinnierte darüber nach, warum es nach so langer Zeit immer noch nicht entfernt worden war. Seltsamerweise trat niemand neben mich, als ich meine Kamera hob und in den ehemaligen Kuhstall hineinfotografierte. Wollte man mich allein lassen mit diesem Teil meiner Entdeckung, war es Diskretion oder einfach nur Gleichgültigkeit? Was bewog meinen Cousin, der doch immerhin das Kind eines der beiden jungen Burschen war, die zur Waffen-SS eingezogen wurden, diese Entdeckung nicht mit mir gemeinsam zu machen. Wusste er nichts von dieser Hakenkreuzruine? Wusste er nichts vom Schicksal seines Vaters? Ich kann es mir kaum vorstellen.

      Und diese junge ungarische Mutter, die doch wusste, was sich da auf der Stallwand ihres erst kürzlich erworbenen Anwesens befand, warum erklärte die nichts? Warum sagte sie mir nicht, weshalb sie dieses Zeichen in den zwei oder drei Jahren, während deren sie und ihr Mann schon Besitzer dieses ehemaligen Hofs meiner Großeltern waren, nicht entfernt hatten? Und vorher hatten doch schon über vierzig Jahre andere Ungarn oder Slowaken in dem Haus gewohnt, ohne dieses Kainsmal zu tilgen. Hatten die denn keine Angst vor der allgegenwärtigen Macht der Kommunisten? Vielleicht war sie gar nicht so groß, wie wir im Westen immer geglaubt haben. In diesen Kuhstall jedenfalls haben sie nie hineingeschaut, sonst wäre das Zeichen sicher nicht mehr dort gewesen, wo ich es im Frühjahr l991 noch vorfand. Als ich meinen Cousin Ferenc fragte, wie das möglich sei, dass dieses halbe Hakenkreuz sogar den „Kommunismus“ überlebt habe, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: „In Ungarn ist alles möglich.“

      8 Das waren etwas mehr als 17 ha. Die reichsten Perbáler Bauern hatten etwa 30 ha.

      9 1900 war der Wert eines Gulden zwei Kronen. Demnach hätte der Großvater meines Vaters ca. 60.00 Kronen in Anleihen angelegt. Das wären nach dem Umtauschkurs von 1912 (1 Mark = 1.176 Kronen) ca. 51.020,- Mark gewesen, eine stolze Summe für Perbáler Bauern! Die Mitgift unserer Wiest Großmutter hat demnach 13.605,- Mark betragen. Das war damals reichlich, verglichen mit ihrer Armut nach der Entwertung.

      10 „Auf Druck des Dritten Reiches wurden den deutschen Volksgruppen in den einzelnen Ländern weit reichende Autonomierechte (sogar Privilegien) zuerkannt. (Sie) mussten aber von ihren Reihen für die ‚Waffen-SS‘ Soldaten rekrutieren lassen. (Zunächst freiwillig. Ab Februar 1942 aber wurden die ungarndeutschen Jungs – mit der Hilfe der ungarischen Gendarmerie (Rendörség) schon ohne ihre Befragung, in die Waffen-SS eingezogen.). Ein solches Abkommen wurde auch mit Horthy-Ungarn geschlossen.“ Aus: Fehérvári Josef (Fritz), Manuskript, Die Geschichte der deutschen Volksgruppen in Südosteuropa, S. 8f Zwei weitere Abkommen dieser Art folgten bis 1944. vgl. dazu: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, o.O. (Bonn) 1956, II. Kapitel, Die SS-Aktionen, S. 32E ff und die sehr aufschlussreichen Berichte von Betroffenen S. 1 ff

      11 s. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, a.a.O. S. 32 E und SS-Aktion – Evakuierung und Flucht vor der Roten Armee. a.a.O. S.1. Zu den Demütigungen, die zur ungarische Armee eingezogene ungarndeutsche Rekruten erwarteten, gehörten neben dem Spott, weil sie nur schlecht Ungarisch sprachen, kleinliche Schikanen ihrer ungarischen Vorgesetzten. Die Befehlssprache in der ungarischen Armee war seit dem Untergang der k.u.k.-Armee 1918 Ungarisch, bis dahin Deutsch. Vgl. zu diesem Komplex: Dokumentation der Vertreibung, Bd.II, a.a.O S. 21E ff und 32 E ff.

      12 Kristián Ungváry Die Belagerung von Budapest 1944/45 und die Ungarndeutschen in www.ungardeutsche, Publikationen, S. 1f

      13 Nach einer statistischen Übersicht vom 28.12.1943 wurden folgende Zahlen „für die Ungarndeutschen des damaligen vergrößerten Ungarns“ gezählt:

      Waffen-SS 22.125 Deutsche Wehrmacht 1 729 Ungarische Wehrmacht 35.000 Wehrähnliche Verbände 459 Arbeitsdienst 32 Arbeitseinsatz im Reich 3 500. Insgesamt 62.845. S. Das Schicksal der deutschen in Ungarn, a.a.O S.33 E Anmerkung 2

      14 Beide Briefe befinden sich im Nachlass unserer Oma.

      15 Durch den ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938, gefällt vom deutschen Außenminister Ribbentrop und dem Italiens, Ciano, erhielt Horthy-Ungarn die Südslowakei und die Karpato-Ukraine zugesprochen. Im zweiten Wiener Schiedsspruch entschied Hitler, dass Nordsiebenbürgen und das ungarisch besiedelte Séklerland an Ungarn zurückzugeben sei. Der Vertag wurde am 30. August 1940 von den Außenministern Deutschlands, Italiens, Rumäniens und Ungarns unterzeichnet. S. Dokumente der Deutschen Politik, Bd. 8/1 Berlin 1943, S.383-389

      16 Sowjetische Truppen als Besatzungsmacht und eine ungarische Koalitionsregierung aus der Nationalen Bauernpartei, Kommunisten und kleineren bürgerlichen Parteien. Die Sozialdemokraten gehörten nicht dazu.

      Die Kopp-Großeltern

      Opa Georg, genannt Hans

      Unsere Tante Maria erzählte mir: Seine Schwiegereltern haben ihn nicht gewollt. Die Payers (Oma war eine geborene Payer) haben sich für etwas Besonderes gehalten. Opa habe als Trinker gegolten. „Er ist aber ein fleißiger Mann gewesen. Oft ist erst nachts nach Hause gekommen von der Arbeit. Einmal ist das Strohdach abgebrannt. Er hat ein Ziegeldach machen lassen. Außerdem hat er noch 16 Joch Grund gekauft (1 ungarisches Joch = 43,16 m2), also 690,56 m². Das ist etwas mehr als 1/3 von einem Hektar). Im Sommer haben wir in der Sommerküche gelebt. Sie war im Presshaus auf dem Hof. Dort waren ein Ofen (Kochherd), ein Backofen und der Brunnen. Jeden Montag hat die Oma dort 15 Laibe Brot gebacken. Vom Presshaus ging man ein paar Stiegen hinab in den Weinkeller. In die ‚fädri Stum‘ (vordere Stube des Wohnhauses) sind wir (die Kinder) nur am Sonntag vor dem Kirchgang gekommen, um einmal in den Spiegel zu gucken.“

      Soweit unsere Tante Maria. Meine Erinnerungen an unseren Kopp-Opa („Eil“ im Dialekt) beginnen erst Jahre später, nach unserer Vertreibung. Seine Zeit davor kenne ich nur aus Erzählungen, v. a. seinen eigenen. Er war ein großer Schwadroneur. Zu seinem Vornamen Georg (Taufschein) ist er wie folgt gekommen: Als sein Vater 1888 zum Pfarrer kam, um die Geburt eines Sohnes mitzuteilen und ihn zur Taufe anzumelden, habe der Pfarrer ihn gefragt: „Wie heißt er?“ Die Anrede in der dritten Person war damals üblich. Sein Vater antwortete: „Georg“, so hieß er nämlich selbst. Und sein Gegenüber schrieb ins Register als Namen des Neugeborenen